Präsentation bei Wochen zur Demokratie
Bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt: Passauer Wissenschaftler bringt Buch über „Euthanasie“-Morde heraus

05.11.2023 | Stand 05.11.2023, 18:52 Uhr |

Wilfried Helm ist einer der beiden Herausgeber des Bandes. − Foto: rmr

Sie wurden ermordet, weil sie nicht der gewünschten Norm entsprachen: psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in der Nazizeit.

Ihr Schicksal und unseren Umgang damit rückt der promovierte Kulturwissenschaftler Wilfried Helm aus Passau in dem Band „Verdrängt – Die Erinnerung an die nationalsozialistischen ,Euthanasie‘-Morde“ ins Licht.

Herr Helm, Sie haben mit Jörg Skriebeleit das Buch „Verdrängt“ herausgegeben über die sogenannten „Euthanasie“-Morde der Nazizeit. Wer verdrängt da was und aus welchem Grund?
Winfried Helm: Gerade die NS-„Euthanasie“ist eine große Verdrängung, die über Jahrzehnte angedauert hat. Das Thema steht auch – wieder einmal – im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: Man will die Opfer der NS-„Euthanasie“ offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen. Das ist nämlich bis heute noch nicht geschehen. Das ist eine wahnsinnig lange Prozedur, und es gibt viele Aktivisten, die seit Langem dafür kämpfen, wie etwa Margret Hamm, die sich seit Jahrzehnten für die Anerkennung einsetzt – und auch für die Entschädigung. Ich denke, die Entschädigung ist einer der wesentlichen Gründe, warum man bei dem Thema so lange gezögert hat.

Sie sprechen in dem Zusammenhang von einer dreifachen Stigmatisierung. Worin besteht diese?
Helm: Rassisch und politisch Verfolgte wurden sehr schnell als Opfer anerkannt, aber man tut sich sehr schwer, die geistig behinderten und kranken Menschen, die damals zu vielen Tausenden ermordet wurden, anzuerkennen – dadurch sind sie dreifach stigmatisiert: Das erste Stigma ist die Krankheit selbst – wobei es oft um Krankheiten ging, die heute behandelbar wären. Entscheidend für die Selektion von Patienten und dafür, ob sie ermordet wurden, war die Frage, ob sie nützlich waren oder nur Aufwand verursachten. Wenn sie arbeitsfähig waren, hat man sie erst mal verschont. Das zweite Stigma ist, dass sie durch die Beeinträchtigung verfolgt und deportiert wurden, oder vor Ort in den sogenannten Heil- und Pflegeanstalten ausgehungert oder durch Medikamente oder Vernachlässigung ermordet wurden. Und die dritte Stigmatisierung ist: Sie wurden vergessen und verdrängt.

Woran liegt das?
Helm: Das liegt zum Teil auch daran, dass die Familien selbst das Thema über Jahrzehnte verdrängt haben und teils immer noch verdrängen. Man sprach ja damals – und das hat in der Nachkriegszeit lange nachgewirkt – von sogenannten Erbkrankheiten. Geschichtlich gesehen hat die eugenische Bewegung lange vor den Nazis schon versucht, den guten, den perfekten Menschen zu „züchten“, und 1933 gab es das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Nur manche Krankheiten davon waren tatsächlich vererbbar, aber die Angehörigen hatten natürlich Angst, sich zu outen: Fällt da nicht ein schlechtes Licht auch auf mich zurück? Muss ich mich dafür schämen? Bringt mir das Nachteile?

Und diese Wahrnehmung besteht bis heute so?
Helm: Inzwischen wird die Erinnerung stärker, weil wir mittlerweile in der dritten oder vierten Generation sind, und weil das Bewusstsein wächst, dass es wichtig ist, diese Menschen wieder als Individuen herauszustellen und sie nicht weiter totzuschweigen.

Wer trägt diese Erinnerung?
Helm: Das liegt stark an einzelnen Personen und Institutionen. In Haar in Oberbayern gab es eine große Anstalt mit 4000 Opfern; dort hängen sich seit etwa zwei Jahrzehnten verstärkt Institutionen an das Thema, und Schulen gehen darauf ein. Solche Impulse verstärken sich gegenseitig.

Woran genau erinnert Ihr Buch, wie weit ist das Thema gefasst?
Helm: Im einleitenden Teil wird anhand ausgewählter Quellen die Realgeschichte dargestellt, wie es zu diesen Morden kam: Etwa das schon genannte Gesetz. Oder davor Propaganda-Plakate, die auf die wirtschaftlichen Kosten von behinderten Menschen abzielen. Oder 1939 der sogenannte „Gnadenerlass“, nach dem in Berlin sofort eine zentrale Stelle gegründet wurde, „T4“ (nach der Adresse Tiergartenstraße 4), die in rund 1000 Anstalten Fragebögen zur Selektion psychisch Kranker und geistig Behinderter schickten. Das sind die Grundlagen, damit man überhaupt versteht, worauf wir uns beziehen. Das Buch selber dreht sich um Rezeptionsgeschiche: Wie ist unsere Gesellschaft, wie ist die Wissenschaft, wie ist die Medizin , wie ist die Kultur, wie ist die Kunst mit dem Thema umgegangen? Der Schwerpunkt liegt dabei auf der aktuell zu beobachtenden Welle, die Erinnerungskultur zu stärken. Der Prozess kam in den 90ern in Gang, unter anderem dank der Gedenkstätten vor allem an den Orten, an denen tausendfach gemordet wurde; Orte, die umfunktioniert wurden in Tötungsanstalten wie Hartheim bei Linz, nicht weit von Passau weg, wohin auch die Menschen aus Mainkofen 1940/1941 in der Regel deportiert wurden. Seit 15 Jahren gibt es vermehrt Initiativen auch von Angehörigen und auch von Psychiatrie-Geschädigten, die sich des Themas annehmen, weil sie sich in der Tradition dieser Opfergruppe sehen, auch wenn sie diese Zeit nicht selbst erlebt haben.

Nach Ihrer geleisteten Arbeit: Was halten Sie politisch für geboten?
Helm: Es ist notwendig, die Opfer endlich politisch anzuerkennen. Und einen Umgang mit dem Thema zu pflegen, der uns in der Gegenwart weiterbringt. Eines der Kapitel, das uns am Herzen liegt, behandelt die grundlegende ethische Frage: Wie gehen wir mit Behinderung um, und wie inklusiv ist unsere Gesellschaft? Jeder Kurzschluss von der NS-Zeit zu heute wäre Schwachsinn, aber es gibt durchaus Kontinuitäten der Ausgrenzung, über die man nicht hinwegblicken kann: Es gibt Präimplantationsdiagnostik, die ganze Reproduktionsmedizin – letztendlich steckt da auch der Wille dahinter, den besseren Menschen zu wollen und keinen, der irgendwie ein Handicap hat. Wenn wir es schaffen, dass uns das Thema herausfordert, darüber nachzudenken, wie wir heute ticken, welche Normen wir als gesetzt sehen, und Leuten Gehör zu schenken, die aufgrund ihrer Voraussetzungen jenseits dieses durchstrukturierten Alltags leben müssen – dann wäre viel gewonnen!

Interview: Raimund Meisenberger



•„Verdrängt“, hg. vom Bezirk Oberbayern durch das Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg (Jörg Skriebeleit und Winfried Helm)

•Buchpräsentation mit Gespräch über Inklusion: Wochen zur Demokratie, So., 12.11., 11-13 Uhr, auf dem Langlebenhof Passau, Alte Rieser Straße 19, Eintritt frei

•wochen-zur-demokratie.de

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