Streit mit Krankenkasse
Landshuterin bleibt trotz Versicherung Jahre ohne Zähne

16.10.2021 | Stand 16.10.2021, 18:31 Uhr

Helga Niesz (67) aus Landshut muss seit Jahren ohne Zähne zurechtkommen. −Fotos: V. Bayer

Von Veronika Bayer

Ein Leben ohne Zähne ist für die meisten Deutschen wohl unvorstellbar. Helga Niesz (67) aus Landshut kennt es jedoch sehr gut: Seit Jahren befindet sich die einstige Krebspatientin im Ringen mit der Krankenkasse. Der Grund: vier Stück Zahnimplantate.

Helga Niesz ist eine ganz normale Frau. Ihr ganzes Leben hat die Landshuterin gearbeitet, zuletzt im Achdorfer Krankenhaus. Zweimal traf die Rentnerin die gefürchtete Diagnose Krebs, zuerst 2009, dann 2017, beide Male wucherten die Geschwüre im Mundraum. Ärzte konnten helfen. Nachdem ihr zuletzt der Tumor an Gaumen und Oberkiefer herausgeschnitten worden war, wurde der Oberkiefer mit Haut- und Knochenmasse aus ihrem Becken und ihrem Unterschenkel neu aufgebaut.

Es geht um eine Summe von knapp 4.300 Euro

Nach der OP 2017, bei der auch vormals eingesetzte Implantate entfernt werden mussten, blieben der Rentnerin noch genau zwei Backenzähne im gesamten Oberkiefer. „Der Rest ist eine Wunde gewesen“, erinnert sich Helga Niesz an die Ernährung mit Magensonde. „Auch die Wunde am Bein ist nur langsam geheilt.“

Als es der Seniorin wieder besserging, blieb dennoch das Problem der fehlenden Oberkieferzähne: Sie könne nicht mehr kauen, berichtet sie, müsse seit 2017 Brei oder ganz weiche Nahrung zu sich nehmen. Zudem sei da das Erscheinungsbild: Wenn Zähne fehlen, fällt der Mund ein. „Meine Enkelkinder haben mich getröstet: Oma, sei nicht traurig, jetzt musst du weniger putzen.“ Aber geschämt habe sie sich trotzdem. Zahnärzte untersuchen sie und finden eine Aufbaulösung: Mit vier Stück Implantaten würde eine Prothese Halt finden. Ein Kostenvoranschlag vom März 2019 beläuft sich auf knappe 4.300 Euro Zuzahlung für die Krankenversicherung. Das ist im Fall von Helga Niesz die AOK.

Die aber weigerte sich beharrlich: Obwohl der Rentnerin schon Implantate bewilligt gewesen waren, pocht der Medizinische Dienst (MDK): Eine Ausnahme für Implantate liege nicht vor. Sowohl Niesz Zahnarzt als auch das Klinikum rechts der Isar sehen das anders: „Die Versorgung mittels Implantaten“, schreibt etwa das Klinikum rechts der Isar, „stellt aus unserer Sicht die einzige Möglichkeit dar“. Deswegen werde erneut um Prüfung und Kostenübernahme für eine gesetzlich geregelte Ausnahme gebeten.

Monatelang geht ein Schriftwechsel hin und her, der aus Begutachtungen und Widersprüchen besteht. Die Patientin bleibt ohne Zähne. „Ich kann auch keinen Zahnarzt finden“, klagt Helga Niesz, „der eine Prothese ohne zusätzliche Implantate als Halt einpassen würde, so, wie von der AOK gewünscht.“

Klage vor dem Sozialgericht

Am Ende erhebt sie im Sommer 2020 Klage vor dem Sozialgericht Landshut. Ihr Rechtsanwalt, Thomas Hofknecht von der Kanzlei Dr. Jockisch Rechtsanwaltsgesellschaft, erklärt, dass Zahnärzte für eine falsche Behandlung haften würden. Einfach mal Prothese machen? Das scheint demnach auch keine Lösung zu sein.

„Das Gericht gab Anfang des Jahres ebenfalls ein Gutachten in Auftrag“, so Hofknecht, „und der renommierte Gerichtsgutachter schloss sich der Auffassung des Klinikums rechts der Isar an, dass hier ein gesetzlich indizierter Ausnahmefall für Implantate vorliegt. Dennoch hat die AOK wieder ein Gegengutachten anfertigen lassen und erst im August weiter Widerspruch eingelegt.“

Auf Anfrage schreibt uns die AOK, dass sie Leistungsanträge „für alle Versicherten nach den gleichen Grundsätzen“ entscheide. Die Basis, so die AOK, sei das Gesetz. Die Gutachten lasse die AOK „bei unklarer Lage“ anfertigen. Im Fall von Helga Niesz müsse das Sozialgericht Landshut im laufenden Verfahren „die unterschiedlichen Standpunkte verschiedener medizinischer Gutachter bewerten. Eine Entscheidung in dem Verfahren steht noch aus.“

Verfahren könne sich noch Jahre hinziehen

Sie könnte noch länger ausstehen: „Auf diese Weise kann sich das Verfahren auch noch die nächsten sieben bis zehn Jahre durch die Instanzen ziehen und verzögern“, erläutert Rechtsanwalt Dr. Martin Jockisch von der gleichnamigen Rechtsanwaltsgesellschaft. „Fakt ist aber, die Frau hat keine Zähne. Schäbig trifft‘s nicht mehr, das dürfte niederträchtig sein. Will die AOK das Verfahren so lange verzögern, bis sie sich der Leistung entzogen hat? Das ist makaber, aber der einzige vernünftige Grund: Das Gericht hat sich im April bereits deutlich geäußert und der AOK nahegelegt, ihren Widerspruch zurückzuziehen.“

Weiter ohne Zähne auszuhalten ist für Helga Niesz undenkbar: „Ich habe immer gearbeitet und möchte wieder wie ein normaler Mensch leben. Was mache ich denn jetzt, bis ich eine Prothese oder Implantate bekomme?“