Bad Reichenhall
Brandbrief: „Hilfsbereitschaft ist am Ende angelangt“

Wegen Flüchtlingen: Landrat und alle Bürgermeister schreiben nach Berlin und München

21.04.2023 | Stand 16.09.2023, 23:16 Uhr

Unter anderem das renovierungsbedürftige Hotel Axelmannstein in Bad Reichenhall dient als Unterkunft für Geflüchtete. −Foto: Archiv

Landrat Bernhard Kern und alle 15 Bürgermeister des Landkreises Berchtesgadener Land haben am Freitag ein gemeinsames Positionspapier zur Asyl- und Flüchtlingspolitik nach Berlin und München geschickt. Sie fordern unter anderem mehr Geld für Kreis und Kommunen, aber auch „eine Begrenzung des Zugangsgeschehens in Deutschland, um eine höhere Verteilgerechtigkeit innerhalb Europas zu gewährleisten“.

Adressaten sind Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Außerdem ging das Schreiben an die Bundestagsabgeordneten Bärbel Kofler, Sandra Bubendorfer-Licht und Peter Ramsauer, Staatsministerin Michaela Kaniber, die Landtagsabgeordneten Gisela Sengl und Florian Streibl sowie Dr. Konrad Schober, Regierungspräsident von Oberbayern, und Thomas Karmasin, Präsident des Bayerischen Landkreistags.

Derzeit sind im Landkreis Berchtesgadener Land insgesamt 2612 Flüchtlinge untergebracht, darunter sind 1484 ukrainische Kriegsflüchtlinge und 1128 Asylbewerber. Das bringe den Landkreis und die 15 Kommunen „zunehmend an ihre Grenzen“, heißt es im Positionspapier, das das Landratsamt am Freitag veröffentlichte.

„Die Situation ist so für die Landkreise und Kommunen nicht länger tragbar“, erläutert Landrat Bernhard Kern den Hintergrund des Schreibens. Die Regierung könne die Herausforderungen „nicht länger an uns delegieren, ohne entsprechende politische Lösungen voranzutreiben sowie finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen“. Erst zu Beginn der Woche war das Thema auch im Kreisausschuss diskutiert worden. Das Positionspapier enthält nun mehrere Forderung.

• Begrenzung: Allein der Landkreis Berchtesgadener Land betreibe aktuell mehr als 60 dezentrale Unterkünfte, darunter ehemalige Hotels, Einfamilienhäuser und Einzimmer-Wohnungen. „Nahezu alle Unterbringungskapazitäten“ seien erschöpft, der Landkreis „kaum noch aufnahmefähig“, schreiben Landrat und Bürgermeister. Die Belegung von Turnhallen sei „nahezu unvermeidbar“, was „massive Folgeprobleme“ für den Schul- und Vereinssport bedeute. Die Lokalpolitiker fordern „eine Begrenzung des Zugangsgeschehens in Deutschland, um eine höhere Verteilgerechtigkeit innerhalb Europas zu gewährleisten“. Die „bereitwillige Aufnahme von Flüchtlingen durch den Bund“ dürfe nicht auf dem Rücken der Kommunen ausgetragen werden. Kern und die Bürgermeister fordern „verbindliche Verteilungsquoten“ innerhalb der EU.

• Verteilung: Der knappe Wohnraum im Landkreis führe „zwangsläufig dazu, dass einige Gemeinden an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind“, heißt es im Papier. Der Unmut innerhalb der Bevölkerung „wächst mit jedem Tag neu“. Jede Anmietung einer Unterkunft führe „verständlicherweise zu einem großen Aufschrei und lässt die Akzeptanz immer weiter sinken“. In einigen Gemeinden liegt der Anteil an Flüchtlingen an der Gesamtbevölkerung bei fast 3,5 Prozent, in anderen bei etwa 0,5 Prozent. Dadurch entstehe „eine Ungleichbehandlung, die der Landkreis gemeinsam mit seinen Gemeinden nicht lösen kann“. Landrat und Bürgermeister fordern daher „finanzielle Unterstützung für alle Gemeinden in den Bereichen Wohnungsbau, Kitas, Schulen, etc., um eine gerechte Verteilung zu ermöglichen“.

• Integration: Kinder, die als Flüchtlinge ankommen, haben nach einer gewissen Zeit Anspruch auf einen Kita-Platz oder auf einen Platz in einer der Schulen. Daher fordern die Kommunalpolitiker Unterstützung bei der Schaffung der Plätze sowie eine Erstattung der Kosten für Personal und Erweiterung. Damit Integration gelinge, müssten Gruppengrößen in den Kindertagesstätten und Klassengrößen in den Schulen reduziert werden. Zudem müsse für Kommunen die Möglichkeit geschaffen werden, ukrainisches Fachpersonal „schnell und unbürokratisch in Schulen und Kindergärten einzustellen“. Angesichts der steigenden Zahl ausländischer Kinder in Kitas, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sei es zwingend erforderlich, dass die Rechtsansprüche, vor allem auch der Ganztagsanspruch, zeitlich ausgesetzt oder zumindest abgemildert werden. In den Einrichtungen fehle vor allem das notwendige Fachpersonal.

• Privatunterkünfte: Zu Beginn des Krieges in der Ukraine sei die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung immens gewesen. Aber auch diese Hilfsbereitschaft sei „mittlerweile am Ende angelangt“. Eigentümer möchten selber über ihre Pensionen, Häuser, Wohnungen oder Zimmer verfügen. Wenn private Unterkünfte wegfallen, gelten Flüchtlinge als Obdachlose und fallen „somit vollständig den Gemeinden zur Last“, schreiben die Kommunalpolitiker. Es gebe jedoch „keine Kapazitäten, die Personen im Rahmen der Obdachlosenunterbringung unterzubringen“. Insgesamt seien im Landkreis 605 Personen dieser Gefahr ausgesetzt. Es müsse „mindestens ein finanzieller Ausgleich geschaffen werden, um die Gemeinden hier zu unterstützen“.

• Wohnraum: Selbst die einheimische Bevölkerung sei im Berchtesgadener Land oft kaum in der Lage, eine Wohnung zu finden. Die Unterbringung von Flüchtlingen verschärfe die Lage. Dadurch würden „auch die Preise extrem in die Höhe getrieben, sodass auch der Unmut in der Bevölkerung wächst“. Landrat und Bürgermeister fordern eine finanzielle Entlastung der Kommunen beim Wohnungsbau und Unterstützung bei der Schaffung von Wohnraum für Flüchtlinge. „Es wäre eine staatliche Aufgabe, dass beispielsweise durch den Bau von Containern eine Entlastung am Wohnungsmarkt geschaffen wird. Dies darf aber nicht zur Aufgabe der Kommunen und deren Personal gemacht werden.“ Zudem sollen Bund und Land „sämtliche staatliche Objekte schnellstmöglich in einen bewohnbaren Zustand versetzen, um hier Flüchtlinge unterbringen zu können“.

• Behörden: Aufgrund der Vielzahl an Zuweisungen von Flüchtlingen seien die Ausländerbehörden, die Asylbewerberleistungsbehörden und die Jobcenter „einem extrem hohen Bearbeitungs- und Beratungsaufwand ausgesetzt“. Dennoch werde für diese staatliche Aufgabe kein zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt. Die Mitarbeiter seien „zunehmend ausgebrannt“. Kern und die Bürgermeister fordern daher „eine sofortige Bereitstellung von zusätzlichem staatlichen Personal, um die Fülle an Aufgaben bewältigen zu können“.

Verfahren: Es sei selbstverständlich, dass ukrainischen Kriegsflüchtlingen „aufgrund der schrecklichen Ereignisse in ihrer Heimat sämtliche Hilfe angeboten werde, die sie benötigen“, heißt es in dem Schreiben. Dennoch sei auch hier eine „größere Verteilgerechtigkeit zwingend erforderlich, um das Verständnis in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten“. Außerdem benötigen die Behörden Gewissheit über das zukünftige Verfahren. Die Dauer der Aufenthaltserlaubnis der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sei per innenministerieller Weisung auf den 24. Februar 2024 beschränkt. Sollte die Dauer verlängert werden, müsse dies „zwingend rechtzeitig bekannt gegeben werden, damit die Ausländerbehörden die Termine für das Verfahren anbieten können“.

Finanzmittel: Bundesinnenministerin Nancy Faeser habe mehrfach betont, dass den Ländern für 2023 bereits über 2,5 Milliarden Euro für die Bewältigung des Flüchtlingszustroms zur Verfügung gestellt wurden. Allerdings komme bei den Kommunen dieses Geld nicht an. Kern und die Bürgermeister fordern daher abschließend, „dass den Kommunen die jeweiligen Finanzmittel auch tatsächlich zur Verfügung gestellt werden“.