PNP-Interview
Neuer Heimatpfleger zu Jagddiskussion: „Zum Engel fehlen dem Reh nur Flügel“

06.12.2022 | Stand 18.09.2023, 20:07 Uhr |

„Das Reh – über ein sagenhaftes Tier“ heißt Rudolf Neumaiers Buch, das im Hanser Verlag erschienen ist. −Foto: Namberger

Dr. Rudolf Neumaier, früher Journalist und jetzt oberster Heimatpfleger Bayerns, mischt sich in die Jagddiskussion ein.

Dr. Rudolf Neumaier ist promovierter Historiker, war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und ist seit Juli 2021 Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Er lebt in Töging am Inn (Lkr. Altötting) und geht in seiner Freizeit Beschäftigungen nach, die ihn seit seiner Kindheit begleiten: die Fischerei und die Jägerei. Nachdem er als Journalist auch viel über Kontroversen rund um die Jagd, insbesondere auf Rehe, berichtet hat, hat der 51-Jährige nun ein Buch über das Reh geschrieben.

Sie nennen das Reh im Untertitel Ihres Buches ein sagenhaftes Tier, beschreiben das Reh in bisweilen romantischem Ton. Was fasziniert Sie an dem Tier?
Dr. Rudolf Neumaier: Es ist in erster Linie die äußere Gestalt, wenn man es länger beobachtet, die perfekten Proportionen, das Verhalten. Es ist einfach ein zauberhaftes Tier. Ich habe im Buch geschrieben: Zum Engel fehlen ihm eigentlich nur Flügel.

Und dennoch schießen Sie als Jäger auf Rehe und töten sie? Wie geht das zusammen?
Neumaier: Jagd hat die Pflicht zur Hege und dazu gehört auch die Hege mit der Büchse. In den Richtlinien zur Hege und Bejagung des Schalenwildes in Bayern heißt es, wir Jäger sollen das Wild nach der natürlichen Auslese bejagen und hegen. Wir entnehmen also jene Tiere, die der Luchs oder der Wolf am ehesten erwischen würde, also die alten und die jungen und die kranken, und achten auf eine einigermaßen solide Struktur im Bestand.

Es macht Ihnen also nichts aus, auf so ein schönes Tier zu schießen?
Neumaier: Es ist klar, dass man dem Reh beim Schießen nicht in die Augen schauen darf. Damit man zum Schuss kommt, muss immer alles passen. Es muss die Entfernung stimmen und die Position. Das Reh muss quer stehen. Es ist aber zweifellos so, dass es schwerer fällt, ein Wildtier zu töten als ein Nutztier, ein Huhn beispielsweise. Das habe ich als Bub schon gemacht, auf dem Hof meiner Oma. Die Jagd ist anders, archaischer. Das ist mir erst mit 48 Jahren klar geworden.

Wie kam das, erst relativ spät im Leben?
Neumaier: Ich war schon immer naturverbunden, als Bub bin ich bei Treibjagden mit dem Radl hinterhergefahren, war beim Entenjagen dabei und habe schwarzgefischt. Als Jugendlicher bin ich dann Fischer geworden. Und später beim Angeln kam dann die Neugierde, was sich draußen und im Wald so abspielt, die Pflanzen und Tiere, die Zusammenhänge. Da habe ich dann die Ausbildung zum Jäger absolviert – eigentlich ohne vorzuhaben, mich auf einen Hochstand zu setzen und ein Reh zu erlegen. Als ich dann das erste Mal dabei war, als ein Reh geschossen wurde – das hat mich total verändert. Schließlich bin ich dann selbst mit einer Waffe draußen gehockt, und die ersten drei, vier, fünf Mal, als es möglich gewesen wäre, sicher zu schießen, konnte ich es nicht tun. Beim Absteigen vom Hochstand war das aber immer das Gefühl eines unvollständigen Erlebnisses. Und eines Tages dann steht ein Jährlingsbock da, 60 Meter weg, breit. Doch es brauchte zwei, drei Anläufe mit anlegen, entsichern, einstechen, abbrechen, entstechen, sichern. Schließlich aber ist er im Feuer gelegen, also auf einen Schlag.

Und dann?
Neumaier: Dann bleibt man erst noch sitzen und lässt die Gefühle in sich wallen. Man beobachtet die Szene. Es könnte ja sein, dass das Tier nicht richtig getroffen wurde und nochmal aufsteht. Aber idealerweise kriegt das Reh gar nicht mit, wenn es geschossen wird. Bis es den Schuss hört, ist es schon tot. Wenn ich dann runtersteige, nehme ich mir einen Bruch von einem Baum, zwei Zweige, einen als letzten Bissen für den Äser und einen als Inbesitznahme- und Erlegerbruch auf den Anschuss. Und dann hält man Andacht. Das ist ganz wichtig. Ich bin ein religiöser Mensch. Die Tiere sind unsere Mitgeschöpfe, so steht’s im Tierschutzgesetz. Dieser Spruch, der auf der berühmten Jagdbitterflasche steht, ist für mich fundamental fürs Jägern: Das ist des Jägers Ehrenschild, dass er beschützt und hegt sein Wild, waidmännisch jagt, wie sich’s gehört, den Schöpfer im Geschöpfe ehrt. Solche Bräuche braucht’s. Denn Jagd ist eben keine Schädlingsbekämpfung, wie es viele Jagdscheininhaber betrachten, die sich dem Hergebrachten nicht verpflichtet fühlen. Bei der Jagd geht es darum, den Wildbestand zu hegen. Die Entscheidung, das Leben eines Mitgeschöpfes zu beenden, die macht man sich nicht leicht, ich zumindest nicht. Und diese Andacht ist dann auch eine Möglichkeit, das belastete Gewissen zu verarbeiten, das den Jäger im Angesicht des getöteten Tieres umtreibt. Dafür gibt’s die Rituale. Sie sollte man nicht preisgeben, wenn man menschlich jagt.

Sie beschreiben eine Art Kulturkampf zwischen verschiedenen Ansichten zur Jagd, stellen Reh-streichler und Rehhasser gegenüber. Warum hassen manche das Reh, wie Sie unterstellen?
Neumaier: Im Mittelpunkt der Diskussion steht ja der Wald, stehen die Triebe der Bäume, die die Rehe abknabbern. Und die Frage, ob die gepflanzte Kultur anders zu schützen ist als mit der Büchse, etwa mit Schafwolle, mit einer Mischung aus Kalk und Kuhmist oder auch Plastikclips und Zäunen. Zäune wurden schon vor 2000 Jahren aufgestellt. Aber das sehen der Bund Naturschutz und die heutige Forstpartie nicht ein. Ihr Dogma ist, das mit der Jagd zu regulieren, was aus tierschützerischer Sicht nicht haltbar ist. Denn ein vernünftiger Grund für die Jagd kann nicht sein, auf diese Art Pflanzen zu schützen, wenn man das auch anders tun kann. Natürlich: In Bergwaldregionen etwa geht es nur so. Und ich bin mit den Förstern völlig konform, dass die Naturverjüngung stimmen muss. Aber da muss man auch schauen: Stimmt überhaupt der Waldbau, gibt es genug Altbäume? Wo ich den Wald umbauen muss, ist das meist nicht der Fall. Und da muss ich dann pflanzen, und diese Bäumchen muss ich schützen. Wenn sich die Jagd darauf einlässt, hier einzugreifen, macht sie sich zur Schädlingsbekämpfung – und dabei mache ich nicht mit. Bevor es so weit kommt, hör ich auf. Denn da müsste man wahllos schießen, Zahl vor Wahl. Und selbst dann braucht es Zäune und Einzelschutz.

Sie üben viel Kritik daran, wie Jagd praktiziert wird, warum gehen Sie dieser noch nach?
Neumaier: Ich sage ja nicht: So wenig schießen wie möglich. Aber Rehe sind nicht die neuen Borkenkäfer, wie es Peter Wohlleben provokant formuliert hat. Ich schieße kein Reh, um den Wald hochzubringen. Die Naturverjüngung muss natürlich passen, aber bei der Jagd schaue ich zuerst, ob die Tiere passen, also ob sie alt, krank etc. sind. Ich kenne alte Bauern, die selber jagen, die haben das Ganze im Blick, ihre Wälder gedeihen – und man sieht Rehe davor. Perfekt. Das Wichtigste ist, dass die Waldbauern und die Jäger miteinander reden.

Zusammenfassend: Gibt es hier Schnittmenge zu Ihrem Beruf als Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege? Sind Jäger Heimatpfleger?
Neumaier: Ich bin als Heimatpfleger gefragt, die Jagd zu verteidigen. Im Bayerischen Jagdgesetz steht: Der Staat hat die Jagd als Kulturgut zu schützen. Als Heimatpfleger habe ich Kulturgüter zu schützen. Dieses Verständnis ist erst über die Jahrhunderte entstanden. Wenn man sich anschaut, wie bestialisch die Adeligen, die über Jahrhunderte das Jagdprivileg hatten, mit den Tieren umgegangen sind, nur zur Gaudi. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann diese Adelsprivilegien aufgehoben. Dann durfte jeder auf seinem eigenen Grund und Boden jagen – mit der Folge, dass die Wildbestände massiv dezimiert waren. Das ist ein historischer Hintergrund für das Entstehen des Artenschutzgedankens, woraus dann der heutige Gedanke der Jagdkultur entstanden ist, dass man den Schöpfer im Geschöpfe, im Mitgeschöpf, ehrt.

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