Berchtesgadener Land
Schweizer Biologe: "Wölfe verhalten sich wie eine Jugendgang"

Schweizer Biologe Marcel Züger zur aktuellen Situation in seiner Heimat – Auch hiesige Almbauern sehen Rudelbildung kritisch

14.02.2022 | Stand 21.09.2023, 4:31 Uhr
Maria Horn

Eine friedliche Almszenerie wie diese mit umgänglichen Rinderherden sehen Stanggassinger und Züger gefährdet.

Ein "Problemwolf" hatte vor wenigen Wochen im Berchtesgadener Land und im benachbarten Landkreis Traunstein für Schlagzeilen gesorgt. Kürzlich wurde das Tier tot in Tschechien aufgefunden (wir berichteten). Groß war und ist die Sorge bei Tierhaltern um ihr Vieh. Es gab viel Diskussionsstoff, der manche Gemüter erhitzt hat.

In der Schweiz läuft es gut mit dem Herdenschutz, das ist eine bekannte Aussage von Wolfsbefürwortern. Das Fachblatt "Der Almbauer" hat mit Marcel Züger, einem fundierten Kenner der Schweizer Wolfssituation, ein Interview geführt. Er ist Dipl.-Biologe der ETH Zürich und Inhaber eines Ökobüros in Salouf im Kanton Graubünden. "Der Almbauer" ist ein Spezialmagazin des Almwirtschaftlichen Vereins Oberbayern für die bayerische Almwirtschaft und hat der Heimatzeitung dieses Interview zur Verfügung gestellt. Dieses umfasst zwei Teile, heute steht der erste auf dem Plan.


Herr Züger, wie stehen Sie zum Wolf?
Marcel Züger: Vor 25 Jahren hatte ich noch geschrieben, wir sollen dem Wolf "eine würdige Rückkehr in seine alte Heimat" ermöglichen. Als 2012 die ersten Welpen in der Schweiz bekannt wurden, habe ich mich riesig gefreut. Ich hatte daran geglaubt, wie uns der Wolf beschrieben wurde. Er ist aber ganz anders. Die Probleme, die noch auf uns zukommen, sind gigantisch.

Wie meinen Sie das?
Züger: Menschenscheu, nachtaktiv, ein einfacher Zaun oder die Anwesenheit eines Hundes halten ihn fern, so war es uns beschrieben worden. Und so ist der Wolf auch, aber nur in Gegenden, wo er stark bejagt wird. Wölfe sind enorm lern- und anpassungsfähig. Sie lernen, auch ausgeklügelte Herdenschutzmaßnahmen zu umgehen. Wenn sie merken, dass vom Menschen keine Gefahr droht, werden sie immer dreister. Wölfe verhalten sich wie eine "Jugendgang". Sie testen die Grenzen aus und wenn sie keine spüren, gehen sie immer weiter.

Scheu zu sein, war für Wölfe über Jahrhunderte die richtige Überlebensstrategie – solange sie bejagt wurden. Das führte zum einen zu einer genetischen Selektion, und zum anderen zu einem fortwährenden Lernprozess. Heute gilt das Gegenteil: Den Frechen gehört die Welt! Die Wölfe merken, dass sie vom Menschen nichts zu befürchten haben und werden immer dreister. Für sie ist unsere Landschaft wie ein Selbstbedienungsladen ohne Kasse. Der nächste Schritt ist absehbar. Wenn die Wölfe lernen, dass sie mit Aggressivität noch einfacher zum Ziel kommen, dann werden sie zu einer echten Gefahr für die Bevölkerung, allen voran für Kinder.

Falls es gelänge, eine Rudelbildung zu unterbinden, müssten die Probleme doch überschaubar sein. Wie sehen Sie das?
Züger: Der Wolf wurde auch uns als Bewohner ausgedehnter, ruhiger Waldlandschaften beschrieben. Die Schweiz habe Potenzial für höchstens ein paar wenige Rudel. Das fußt auf einem fulminanten Irrtum: In Osteuropa war der Wolf tatsächlich in solch abgelegenen Gebieten zu Hause. Ganz einfach, weil er in der bäuerlich genutzten Kulturlandschaft bekämpft wurde. In der Kulturlandschaft findet er sich hingegen sehr wohl zurecht. Er braucht zwei Dinge: genug Nahrung und einen ruhigen Rückzugsort, solange die Welpen klein sind. Nahrung findet er in Europa fast überall und ist hier auch nicht wählerisch. Er braucht nicht zwingend Hirsch und Reh, er frisst, was ihm vor die Schnauze kommt. Das können Füchse, Nagetiere oder Essensreste sein oder eben Nutztiere genauso wie Hunde und Katzen. Über kurz oder lang rechne ich damit, dass er kaum noch einen ruhigen Rückzugsort braucht. Je mehr er sich an den Menschen gewöhnt, desto mehr wird er sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft niederlassen.

Als Vergleich: Bei uns im Bergdorf werden die Füchse bejagt, sie kommen nur höchst selten ins Dorf. In den Städten wird ihnen kein Haar gekrümmt, und sie ziehen dort ihre Jungen auf. Den gleichen Weg wird der Wolf wohl auch nehmen, wenn wir ihn frei gewähren lassen. Mit dem Unterschied, dass das ziemlich ungemütlich werden kann – und zwar für uns und nicht für ihn!

Die Entwicklung ist in Bayern noch ganz am Anfang. Sehen Sie Parallelen zur Schweiz?
Züger: Der erste "Einwanderer" in der Schweiz wurde 1995 beobachtet. Bis zur ersten Reproduktion vergingen fast 20 Jahre. So viel Zeit wird ihnen in Bayern nicht bleiben. Häufiger ist es, dass sich zwei bis drei Jahre nach den ersten Beobachtungen Rudel bilden.

In der Schweiz sind derzeit 15 Rudel offiziell bestätigt, wahrscheinlich kommen noch etwa fünf weitere Rudel dazu. Betroffen sind vor allem die Bergkantone Graubünden, Glarus, Wallis und Waadt. Die Ausbreitung geschieht rasch, mit einem Wachstum von 30 bis 40 Prozent pro Jahr. Also eine Verdopplung alle zwei bis drei Jahre. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird die Schweiz innerhalb von rund 15 Jahren flächendeckend besiedelt sein. Mit einer durchschnittlichen Reviergröße von etwa 250 km².

Das Bestandswachstum ist das eine. Zum anderen gibt es immer mehr Problemwölfe, die den Herdenschutz überwinden oder Großvieh angreifen. Wobei "Problemwolf" eigentlich nicht den Kern trifft, denn sich anzupassen, ist das natürliche Verhalten. Jeder Wolf hat das Potenzial, zum Problemwolf zu werden. Mit dem Nicht-Management, das in ganz Europa betrieben wird, züchten wir Wolfs-Tyrannen. Der Wolf ist kein "Bösewicht", nur unser Laisser-faire macht ihn dazu.

Was verstehen Sie unter Nicht-Management?
Züger: Die Forderung der Wolfsschützer ist, dass sich die Wölfe ungehindert ausbreiten können. Wo sie auftreten, müssen die Weidetiere geschützt werden, und nur in ganz wenigen Ausnahmefällen dürften Wölfe abgeschossen werden. Das führt zu einem Wettrüsten, die Herdenschutzmaßnahmen müssen aufwendiger werden: mehr Hunde, mehr und höhere Zäune, mehr Aufwand für die Hirten und Tierhalter und im Gegenzug weniger Weide- und dafür mehr Stallhaltung.

Zusätzlich verlagert sich das Problem mittlerweile. Zunächst war nur Kleinvieh betroffen, aber viele Schafherden wurden daraufhin in den letzten Jahren geschützt. Die Wölfe greifen nun das nächstschwächere, ungeschützte Opfer an, nämlich Jungrinder. Wölfe erlegen so wehrhafte Tiere wie Bisons oder Elche. Es liegt auf der Hand, dass sämtliche Nutztiere bis hin zur ausgewachsenen Kuh im Beutespektrum der Wölfe liegen. Dass Großvieh gefährdet ist, wird teilweise noch immer geleugnet. Auch die Idee, Esel oder Alpakas als Herdenschutz einzusetzen, hält sich hartnäckig. Das ist Humbug. Sie dienen höchstens als gezielte Ablenkfütterung.

Der einzige wolfssichere Zaun war der Eiserne Vorhang zwischen West- und Ostdeutschland. Alles andere wird früher oder später überwunden.

Wie sieht es mit Herdenschutzhunden als Abwehr aus?
Züger: Aktuell profitieren wir noch vom Vergrämungs-Effekt der Hunde auf den Wolf. Dass dies dauerhaft funktioniert, ist eine Illusion. Auch hier gilt: Die Wölfe werden lernen, die Hunde auszutricksen. Oder sie als Nahrung zu nutzen, wie es stellenweise in Russland schon der Fall ist.

Die Herdenschutzhunde in der Schweiz werden zwar nach bestem Wissen und Gewissen ausgebildet. Diese Hunde sind wie Soldaten nach der Rekrutenschule. Draußen geht es aber eher zu wie in Afghanistan. Damit die Hunde gegen ein geübtes Wolfsrudel eine Chance hätten, bräuchte es im Kampf ein Verhältnis von 1:1. Außerdem müssten unsere Hunde viel "schärfer" sein. Im Vergleich zu Herdenschutzhunden in Osteuropa oder der Türkei wirken unsere wie Schoßhunde. Dort sind die Schafherden in weiten Landschaften unterwegs und die Hunde begleiten die Herde wie ein Sicherheitsteam einen Goldtransport. Alles was in die Nähe kommt, wird vertrieben – ob Wolf oder Mensch. Bei uns haben die Herdenschutzhunde eine unlösbare Aufgabe. Sie sollen unterscheiden zwischen "bösem" Wolf und "liebem" Hund und zwischen galoppierendem Wolf und galoppierendem Jogger? Das ist unmöglich.

Was heißt das für den Tourismus?
Züger: Zunächst: Es geht nicht nur um Schafalmen, sondern alle Tiergattungen sind betroffen. Mutterkühe werden aggressiver, erst recht, wenn sie ein Kalb führen. Gleichzeitig haben immer mehr Wanderer keine Ahnung von der Natur. Sie durchqueren Kuhherden oder wollen Kälbchen streicheln. Das war schon immer riskant, wird jetzt aber lebensgefährlich. Auch für die Bauern kann das schlimm enden, wenn vormals umgängliche Kühe zu aggressiven Furien werden. Bei uns gab es schon mehrere Vorfälle, wo erfahrene Bauern nur mit letzter Not fliehen konnten.

Dafür müssen nicht einmal direkte Angriffe passieren. Ein Beispiel vom vergangenen Jahr: Drei Wölfe hatten ein Gamsrudel gehetzt. Die Hatz ging in rasender Geschwindigkeit auch durch eine Rinderweide. Die Rinder stoben natürlich in alle Richtungen auseinander und rissen die Weidezäune nieder. Kollisionen mit Personen oder auch Fahrzeugen sind hier vorherseh- und erwartbar.

In touristisch genutzten Gebieten wird es nur noch ein Entweder-oder geben. Entweder Beweidung mit intensivem Herdenschutz oder Tourismus mit Wanderern und Bikern – dann ist aber Herdenschutz nicht verantwortbar. Für den Tourismus ist nicht so sehr der Wolf selbst eine Gefahr, sondern die Herdenschutzmaßnahmen. Mir graut vor der Kluft, die sich zwischen Tourismus und Landwirtschaft auftun könnte, denn beide sind aufeinander angewiesen. Der Tourismus schätzt die gepflegte Landschaft, die Landwirte die Abnehmer ihrer hochwertigen Produkte.

Das sagt ein heimischer Almbauer: Bezirksalmbauer Kaspar Stanggassinger äußert seine Befürchtungen zu den Auswirkungen im Berchtesgadener Land: "Wenn es zu einer Rudelbildung kommt, dann bedeutet dies das Ende unserer Alm- und Weidewirtschaft. Das wäre auf Dauer nicht tragbar. Gerade wenn man auch die Einzigartigkeit der Freiweiderechte in unserem Landkreis mit in Betracht zieht", so seine Prognose. Stanggassinger verweist auf die Bedeutung der Kulturlandschaft im Berchtesgadener Land im Hinblick auf den Tourismus und bedauert: "Leider hat sich zum Thema bisher niemand aus der ‚Tourismusecke‘ geäußert. Man muss sich mal die Auswirkungen vorstellen, wenn die Almen großflächig eingezäunt wären, das wären massive Einschränkungen, die Attraktivität der Wandergebiete würde stark nachlassen oder ganz verloren gehen."

Kaspar Stanggassinger unterstreicht weiter, dass die Almwirtschaft von vielen Landwirten im Nebenerwerb betrieben wird. "Da fragt sich dann wohl mancher, ob man überhaupt noch Tiere auftreiben soll, wenn die Gefährdung durch Wolfsrudel zunimmt. Und wenn die Almen nicht mehr bewirtschaftet werden, verschwindet die Biodiversität. Es wurde jetzt schon ein Landschaftspflegeverband gegründet, damit Flächen gepflegt werden. Da wären die Auswirkungen fatal, wenn immer mehr Landwirte aufhören und die Almen nicht mehr bewirtschaftet werden." Der Bezirksalmbauer hat mit Kopfschütteln die Reaktionen aus der Bevölkerung zur Kenntnis genommen, als veröffentlicht wurde, dass Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) die Freigabe des Abschusses für den "Problemwolf" erwirkt hat. Denn im vergangenen Januar war vom Bayerischen Landwirtschaftsministerium eine Allgemeinverfügung zur "Entnahme des Problemwolfs" veröffentlicht worden. In vielen Leserbriefen wurde Partei für den Wolf ergriffen, "da sieht man wieder einmal, wie gering die Wertschätzung der Landwirtschaft in der Region ist", bedauert Stanggassiger und ergänzt: "Obwohl es schon eigenartig war, dass der Abschuss freigegeben wurde, nur nicht im Nationalparkgebiet". Stanggassinger zeigt sich nach wie vor kämpferisch und will in seiner Funktion als Bezirksalmbauer alles in seiner Macht Stehende daransetzen, dass eine gütliche Lösung gefunden werden kann. "Noch ist unsere Kulturlandschaft intakt, ihr Verschwinden hätte fatale Folgen."