Berchtesgadener Land
Bürgermeister an Söder: Exempel statuiert und im Stich gelassen

22.02.2021 | Stand 21.09.2023, 0:50 Uhr

Die Bürgermeister des Berchtesgadener Lands und Landrat Bernhard Kern – hier bei einem gemeinsamen Treffen im Mai vergangenen Jahres – wenden sich mit einem Brief an den Ministerpräsidenten. −Foto: Landratsamt

Sie haben "nicht den Eindruck, dass unsere Sorgen und Nöte ernst genommen werden". Mit diesen Worten wenden sich alle Bürgermeister und der Landrat des Berchtesgadener Lands erneut mit einem Brief an Ministerpräsident Markus Söder. "Der längste Lockdown braucht eine Perspektive", haben sie als Betreffzeile geschrieben. "Wir fühlen uns, als ob der Staat im Oktober ein Exempel an uns statuiert hat und uns nun im Stich lässt", heißt es in dem Schreiben und weiter: "So sehr wir die Notwendigkeit von Maßnahmen erkennen, so sehr stellt sich gerade in unserem Landkreis die Frage nach der Wirksamkeit und somit der Verhältnismäßigkeit der angeordneten Einschränkungen."

Die Bürgermeister und der Landrat nennen "Faktoren, die uns besonders verletzlich für die Anti-Corona-Maßnahmen machen": Durch die geografische Lage an der Grenze zu Österreich gebe es "einerseits diffuse Infektionsgeschehen, vor allem aber haben wir durch die Grenzpendler wesentlich mehr Testungen und damit selbstverständlich höhere Inzidenzen als andere Regionen im Landesinneren". Weiter führen sie an, dass sie in den vergangenen Jahren versuchten, "die verbliebenen vier Ortszentren mit Fußgängerzonen zu stärken", gerade die inhabergeführten Geschäften stünden nun durch die Corona-Maßnahmen vor dem Aus. Hinzu komme, dass viele Tourismusbetriebe in den vergangenen Jahren investiert haben und jetzt "vor schier unlösbaren Problemen" stünden.

Es geht um "die schiere Existenzangst"

Für die Bürger finden die Amtsträger lobende Worte: "Zuletzt während der Flüchtlingskrise, als wir zum Einfallstor der Geflüchteten wurden, haben wir dank des Engagements unserer Bürgerinnen und Bürger Bemerkenswertes geleistet. Wir haben keine großen Demonstrationen organisiert, wir haben gehandelt." Nun gehe es um "die schiere Existenzangst", es gehe darum, dass ein Friseurmeister, die nie Schulden gemacht habe, drei Jahre länger arbeiten müsse, um die Überbrückungskredite abzubezahlen, es gehe um Gaststätten und Hotels, von denen Banken zusätzliche Sicherheiten forderten, aber auch um Senioren "die in panischer Angst vor einer Infektion mit Corona leben und sich nicht mehr unter Menschen trauen", um Eltern und vor allem "darum, was wir allen Kindern antun, die nicht in eine Notbetreuung gehen dürfen und notdürftig zuhause digital beschult werden und außerdem sich nicht mehr mit ihren Freunden treffen können". Dass man die Jugendarbeit der Vereine der vergangenen Jahre "an die Wand gefahren" habe, werde "gefühlt nur schulterzuckend zur Kenntnis genommen".

Ihren Eindruck, dass sie im Stich gelassen werden, belegen sie mit mehreren Beispielen: Staatliche Vorschriften verhinderten bis heute eine verpflichtende Testung nach der Quarantäne. Es sei "inakzeptabel", dass die Gesundheitsämter wegen fehlender gesetzlicher Grundlage einem möglichen weiteren Infektionsgeschehen zusehen müssen und lediglich Empfehlungen aussprechen dürfen. Weiter heißt es: "Trotz deutschlandweiter Rekord-Inzidenz wurde monatelang der Chef unseres Gesundheitsamts durch den Staat nicht nachbesetzt." Die Bürgermeister und der Landrat beklagen auch, dass es immer noch Pressekonferenzen gebe, bei denen angekündigt werde, dass "wieder ein Fachressort etwas ausarbeiten wird, ganz so, als ob wir erst seit zwölf Tagen und nicht schon seit zwölf Monaten mit Corona unterwegs wären". Und schließlich kritisieren sie, dass Gastronomie und Hotellerie "bei den großen Verkündungen in Bund und Land nicht einmal mehr erwähnt" würden.

"Damit dei Akzeptanz nicht komplett wegbricht"

Erschreckend an der Aufzählung sei, dass sie sich noch "spielend erweitern" ließe. Die Bürgermeister und der Landrat schreiben Söder: "Wir müssen Perspektiven aufzeigen, damit die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht komplett wegbricht. Wir müssen die Strategie hinter staatlichem Handeln verstehen, damit wir sie vor Ort auch erklären können."

Sie schlagen auch konkrete Maßnahmen vor. Wenn das im Berchtesgadener Land laufende Pilotprojekt zum landkreisweiten Test von Abwasser auf das Virus intensiviert würde, könnte man Entscheidungen "etwa vier bis fünf Tage vor der Welle treffen". Dadurch könnte man eine schrittweise Öffnung von Gastronomie und Beherbergungsbetrieben begleiten und gegebenenfalls nachsteuern.

Bei der schrittweisen "und vor allem verlässlichen" Öffnung der Schulen mit Mindestabständen und Testkonzepten können sich Bürgermeister und Landrat vorstellen, "als Pilotregion für neue Konzepte zum Corona-freien Unterricht zu fungieren". Die aktuelle Regelung, wonach es bei Inzidenz-Werten um 100 zu kurzfristigen Öffnungen und Schließungen kommt, "kann nicht die Lösung sein, weil Schulen, Eltern und Kinder keine Planbarkeit haben".

Verfasser sind bereit, "zu tun was verhältnismäßig ist"

Für notwenig halten die Verfasser des Briefs auch die Anwendung der "bislang problemlosen Praxis für den Lebensmitteleinzelhandel auf die sonstigen Handelsbetriebe, insbesondere kleinere Ladengeschäfte".

Abschließend betonen die Verfasser ihre Bereitschaft, "zu tun was notwendig und verhältnismäßig ist" und fordern nochmals "eine Perspektive, dass nach dem Lockdown auch noch etwas übrig ist, was wieder aufgesperrt werden kann".

Bereits im Oktober hatten sie einen Brief an Söder verfasst, damals noch mit freundlichen Worten für den Ministerpräsidenten, den sie baten, "Bitte sorgen Sie für unbürokratische finanzielle Unterstützung des Freistaates Bayern und kümmern Sie sich auch mit fürsorglichem Verständnis ideell um die Bevölkerung im Berchtesgadener Land", hatte es damals geheißen. Erst am Donnerstag hatte außerdem Landrat Bernhard Kern einen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschickt, kurz zuvor ging auf Initiative des Zweckverbands Bergerlebnis Berchtesgaden gemeinsam mit Garmisch-Partenkirchen und Oberstdorf auch ein Schreiben an Söder (wir berichteten).

− can