Festspiele Europäische Wochen Passau
Zeugnis der Liebe: Vier Uraufführungen für die Ehefrau

04.07.2022 | Stand 21.09.2023, 1:18 Uhr

Diese vier unter 30 Jahre alten Komponistinnen und Komponisten haben für einen außergewöhnlichen Festspielabend gesorgt in der Pfarrkirche Fürstenzell: Carlotta Rabea Joachim (mit Auftraggeber Volker Plitz). −Fotos: Toni Scholz

Eine Frau vollendet ihr Leben und verlässt diese Erde. Ihr Mann, der 54 Ehejahre mit seiner Erika geteilt hat, beauftragt vier Komponisten, dass sie je ein Orchesterwerk für sie schreiben. Zwei Jahre arbeiten die Schüler von Kompositionsprofessor Moritz Eggert an der Münchner Musikhochschule an ihren Werken. In einem so bewegenden wie lebendigen Abend sind diese vier Stücke nun am Freitagabend in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Fürstenzell (Kreis Passau) bei den Festspielen Europäische Wochen Passau erstmals erklungen. In der ersten Reihe: Volker Plitz, der Auftraggeber und Mäzen, in Passau bekannt als Mitbegründer des "1. Passauer Jazzclubs" und langjähriger Zahnarzt.

Zu den Hörbeispielen aus den Kompositionen gelangen Sie hier

So rührend die Geschichte, so klar ist auch: Zeitgenössische Klassik haben viele noch nicht als Genuss für sich entdeckt. Entsprechend arbeitet EW-Intendant Carsten Gerhard mit allen Kniffen: Er portioniert die neue Musik in eine "Lange Nacht der kurze Konzerte" von 17 bis 22.30 Uhr, jedes ist einzeln buchbar, jeder Uraufführung folgt ein besonders gefälliges Werk des klassischen Kanons, in drei Pausen gibt es reichlich Getränke, zur Halbzeit sogar festlichen Schmaus. Die Botschaft ans vermeintlich so skeptische Publikum ist klar: "Keine Angst, Sie stehen das durch, und zur Belohnung gibt’s Schubert, Mozart, Dvořák und gutes Essen!"

Dabei ist diese neue Musik so spannend – und weitgehend auch so leicht hörbar – dass ein paar Warnschilder weniger vielleicht den besseren Effekt erziehen würden. Zumal die sehr jung besetzte Nationale Kammerphilharmonie Prag unter der Leitung von Tomáš Brauner an diesem Tag hinsichtlich Ausdauer und Konzentration ganz Großes leistet.

Konzert eins stammt von Alexander Mathewson, geboren 1992, "Symphonie Nr. 1" nennt er sein Werk, das ein gemeinsames Leben nachzeichnet: Hymnische Trompete kündet vom Aufbruch ins Neue; als wäre die frische Liebe Rock ’n’ Roll, knallen die Streicher ein akzentuiertes 4/4-Riff in die Sinfonie, Oboe und Flöte hauchen Trauer und Abschied hinein, jazziger Swing eröffnet das filmmusikalische Finale – fast sieht man das Paar in der Rückblende noch einmal gemeinsam in den Sonnenuntergang fahren.

Noch plastischer zeichnet das zweite Konzert dieses Reisemotiv: Mit hohlen Blasgeräuschen und lautmalerischem Glissando in hoher Lage holt Bernhard Plechinger, geboren 1994, in "The Journey … in 5 views on life" den Zuhörer mit dem Hubschrauber ab und blickt aus der Vogelperspektive auf gegensätzliche Aspekte und Stimmungen desselben Lebens: hier eine Idylle, da ein auf Saiten gerupftes Drama, ein Tanz, Seufzer, am Ende Gustav-Mahler-haftes Pathos, Transzendenz, noch einmal die Rotorblätter und der Aufstieg in prachtvolles Jenseits.



Konzert drei, "Das Fließen der Zeit" von Carlotta Rabea Joachim, geboren 1995, ist geprägt von großem Ernst, vom Suchen nach Wegen, von kleinfasrigen Bewegungen, kammermusikalischen Soli, Duos, Trios, Quartetten innerhalb des Orchesters, von schwebenden Glissandi, die erst ganz am Ende ins Tutti (der Lebensvollendung, des Meeres, des Todes) münden.



Konzert vier, die "Symphonischen Variationen" von Maksim Liakh, geboren 1995, wandert durch musikalische Charakteristiken, zeitlose Klangflächen, große Streicherbewegungen, synkopische Grooves, Pizzicato-Verstörungen, Flötenflattern und knarzendes Blech, Kontrabasssolo und geleiten in die Ewigkeit mit Pauken und Hörnern.

Diese Klänge zu erleben ist ebenso belebend wie die Gespräche danach. Übrigens: Über die Werke von Schubert, Mozart und Dvořák ist seit Hunderten Jahren so viel geschrieben worden, sie haben in diesem Text Pause.

Nur ein Gedanke noch, nein zwei: Wie wäre es, nicht das neue Werk mit einem klassischen zuzudecken – sondern im Sinne einer Klimax das zeitgenössische jeweils ans Ende zu setzen? Und: Wenn es "so eminent wichtig" (Zitat Intendant Carsten Gerhard) ist, junge Künstler zu spielen, so ist es umso wichtiger, mit Uraufführungen keine Eintagsfliegen zu gebären. Sondern die neue Musik auch zu pflegen – warum hätte man sie sonst uraufgeführt?

Es wäre eine wegweisende kulturpolitische Option für Festspiele wie die Europäischen Wochen Passau, neue Musik nicht nur als homöopathischen Nachweis der Aufgeschlossenheit darzubieten, sondern dem Publikum in jedem (!) Konzert ein junges Werk von hoher Qualität unterzujubeln, ohne eine zu große Sache daraus zu machen. So lange, bis das wieder genau so normal wird wie einst zu Bachs Zeiten. So, wie wir beim Lesen auch nicht täglich zum Buch aus Barock und Klassik greifen, so abwechslungs-lustig könnten wir auch beim Hören von Musik werden.

Raimund Meisenberger

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