Zum Schutz vor schlechten Erfahrungen
Wie spielt man Sex? – Intimkoordinator hilft bei Intimszenen

Vier von fünf Schauspielerinnen haben schlechte Erfahrungen mit Intimszenen gemacht

15.07.2022 | Stand 12.10.2023, 10:36 Uhr

Szenen voller Erregung? Wenn Schauspielerinnen und Schauspieler Sexszenen drehen müssen, dann hat das nichts mit echter Lust zu tun, sondern mit einem Arbeitsauftrag. Für Professionalität sorgen soll der Intimacy Coordinator. Unser Bild zeigt Dakota Johnson in "Fifty Shades of Grey". −Foto: TVNow/Universal City Studios/LLLP

Sich auf der Bühne küssen, vor der Kamera Sex simulieren oder am Set eine Vergewaltigung inszenieren. Wie fühlt sich das für Schauspielerinnen und Schauspieler an? Aus Zuschauerperspektive eine unverfängliche Frage. Der Bundesverband Schauspiel (BFFS) allerdings bricht mit einer Studie zu Erfahrungen von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Nacktheit und simuliertem Sex ein langgewahrtes Schweigen. Vier von fünf weiblichen und etwa die Hälfte der männlichen Schauspieler haben im Beruf Erfahrungen mit Grenzverletzungen, sexueller Belästigung oder sexualisierter Gewalt gemacht.

Ein neuer Beruf soll das Problem beheben

Bei der Darstellung von Intimität, Nacktheit oder sexualisierter Gewalt haben über die Hälfte der weiblichen Befragten mindestens einmal Grenzverletzungen erfahren, ebenso jeder fünfte männliche Befragte. Der BFFS reagiert mit dem Culture Change Hub, einer Kooperation für würdevolles Arbeiten im Kulturbereich, mit der Einführung eines neuen Berufs: dem Intimacy Coordinator. Bei den Münchner Filmfesten und im Telefonat mit der PNP erklären die Initiatoren, warum es höchste Zeit für die Desexualisierung von Sex-Szenen ist.

"Für jede Ohrfeige, jeden Sturz die Treppe hinunter, kommen Stuntkoordinatoren ans Set. Für die Simulation intimer Szenen aber ist niemand da", kritisiert Barbara Rohm, Leiterin der ersten Intimacy Coordinating Weiterbildung im deutschsprachigen Raum. Für eine Rolle besetzt zu werden, ist oftmals an die Bedingung geknüpft, sich nackt oder teilweise nackt zu zeigen. Jede dritte Schauspielerin, jeder vierte Schauspieler wurde beim Casting schon einmal gebeten, ohne vorherige Absprache einen Spielpartner zu küssen. Vertraglich geregelt sind die genauen Grenzen der Körperlichkeit kaum, Vorbesprechungen finden selten statt, Drehbücher bleiben vage in der Beschreibung intimer Sequenzen. Dabei würden sich Akteure laut der Studie genauere Anweisungen und Absprachen wünschen.

"Von Schauspielerinnen und Schauspielern zu verlangen, dass sie bei der Darstellung von Intimität und sexualisierter Gewalt auf eigene Erfahrungsmuster und Improvisation zurückgreifen, ist nicht nur höchst unprofessionell, sondern gefährlich", sagt Rohm. "In jedem Berufsfeld gibt es sexuelle Übergriffe. Es ist wichtig, Geschichten darüber zu erzählen und zu zeigen, was der Figur, die dargestellt wird, widerfährt", so Rohm.

Entscheidend sei für die Praxis, dass die Bühnenkünstler die Schmerzpunkte der Figuren keineswegs nacherleben müssen, um authentische Szenen zu drehen. "Es geht immer darum, innerhalb der professionellen Grenzen eines Menschen zu arbeiten, bei Sex muss das doppelt und dreifach gelten", fügt Leslie Malton hinzu. Als Vorsitzende des BFFS ist sie an der Planung der Studie beteiligt.

Die Me-Too-Debatte kochte 2019 mit dem Skandal um Harvey Weinstein als Erstes in der Schauspielindustrie hoch, die Schwellen für Machtmissbrauch sind niedrig, die Abhängigkeiten hoch. Wie wichtig es also ist, dass Menschen mit Einfluss sich für sexuelle Selbstbestimmung innerhalb der Schauspiel- oder jeglicher anderen Branche stark machen, zeigt die Studie ebenfalls: Schauspielerinnen lassen sich häufiger als Schauspieler auf intime Szenen ein, aus Angst, andernfalls nicht für die Rolle besetzt zu werden. Sie schweigen zudem nach Grenzüberschreitungen und sexuellen Übergriffen. Leslie Malton, auch selbst Schauspielerin, ist nach Jahrzehnten in der Branche wenig überrascht von den Ergebnissen: "Diese Schweigekultur gibt es in allen Branchen, vor allem in kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Aus Angst, den Job nicht zu bekommen oder vor Kolleginnen und Kollegen als Nestbeschmutzer dazustehen, wird geschwiegen." Warum die Problematik nicht eher angegangen wurde, wissen Malton und Rohm auch nicht genau. Nur, dass sie es jetzt tun.

Kuss soll choreografiert sein wie ein Stunt

Als Moderator zwischen Regie und Schauspielern kommt hier der Intimacy Coordinator ins Spiel. Die Ausbildung zum Intimacy Coordinator, die das Culture Change Hub seit April 2022 anbietet, soll einen sicheren Raum für die Darstellung von Intimität und sexueller Gewalt herstellen. Ganz konkret sind die Aufgaben der Koordinatoren zum Beispiel, mit Schauspielerinnen und Schauspielern rechtzeitig über ihre individuellen Grenzen zu sprechen: Will sich ein Schauspieler nackt unter der Dusche zeigen? Ist eine Schauspielerin einverstanden, dass ihre Brüste zu sehen sind?

In den Choreografien von Sexszenen sollen Bewegungen genau abgestimmt und mit materiellen Hilfsmitteln und Kommunikation das Set desexualisiert werden. "Es sollte keine Kussszene geben, bei der man plötzlich eine Zunge im Mund hat, ohne, dass das abgesprochen ist," so Malton. Ein Kuss muss genauso choreografiert sein wie eine Ohrfeige, eine Sexszene genauso professionell inszeniert wie ein Sturz die Treppe hinunter.

Simone Kamhuber