Prozess
Kremlgegner Nawalny zu neun Jahren Straflager verurteilt

22.03.2022 | Stand 20.09.2023, 1:18 Uhr
Alexej Nawalny (2.v.r.) ist auf einem Standbild aus einem Video aus dem Gerichtssaal zu sehen. −Foto: Foto: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

In einem weiteren umstrittenen Prozess hat ein russisches Gericht den inhaftierten Kremlgegner Alexej Nawalny zu insgesamt neun Jahren Straflager verurteilt. Richterin Margarita Kotowa ordnete am Dienstag nach einer stundenlangen Rede zudem besonders harte Haftbedingungen an.

In die neun Jahre Haft werden alle bisherigen Strafen gegen den 45-Jährigen mit eingerechnet, wie Nawalnys Anwältin Olga Michajlowa im Anschluss mitteilte. Nawalny könnte demnach bis 2030 in Haft bleiben. Seine Anwältin kündigte Einspruch an.

Zudem soll der Oppositionelle, der als bekanntester Gegner von Präsident Wladimir Putin in Russland gilt, 1,2 Millionen Rubel Strafe (umgerechnet 8200 Euro) zahlen. Der Prozess wurde Nawalny in seinem Straflager rund 100 Kilometer östlich von Moskau in Pokrow gemacht. Anschließend fanden sich auch Michajlowa und ihr Anwaltskollege Wadim Kobsew kurzzeitig in Polizeigewahrsam wieder. Der Kremlgegner hatte einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok im August 2020 nur knapp überlebt und sich in Deutschland davon erholt. Bei der freiwilligen Rückkehr nach Moskau wurde er sofort festgenommen.

Nawalnys Anwälte kurzzeitig in Gewahrsam

Die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta" veröffentlichte ein Video, das zeigt, wie Michajlowa von zwei Polizisten abgeführt wird - begleitet von Kameras. Ein Beamter hatte zuvor dazu aufgerufen, sie wegen "Störung der Arbeit der Justizvollzugsanstalt" vom Gelände zu bringen. Wenig später kamen beide wieder auf freien Fuß.

In dem als politische Inszenierung kritisierten Verfahren sprach die Richterin Nawalny unter anderem wegen Betrugs in besonders großem Umfang schuldig. Der Angeklagte habe sich auf dem "Weg der Täuschung und des Missbrauchs von Vertrauen das Vermögen von Fremden" erschlichen. Nawalnys Team hatte der kurz zuvor von Putin beförderten Juristin vorgeworfen, während des Verfahrens immer wieder mit der Präsidialverwaltung telefoniert zu haben, um sich Instruktionen geben zu lassen.

Das Team des Kremlgegners sieht das Vorgehen der russischen Justiz als weiteren Versuch an, Nawalny mundtot zu machen. Es handele sich um ein von Putin persönlich gesteuertes Verfahren, sagte die Sprecherin des Oppositionellen, Kira Jarmysch. "Erst hat er (Putin) versucht, Alexej zu töten. Und als das scheiterte, hat er entschieden, ihn für immer im Gefängnis zu halten."

Sorge um neue Haftumstände

Verantworten musste sich der zweifache Familienvater diesmal wegen angeblicher Veruntreuung von Geld für seine inzwischen in Russland verbotene Anti-Korruptions-Stiftung und wegen Beleidigung einer Richterin in einem früheren Verfahren. Nach Angaben seines Teams hatten ihm bis zu 15 Jahre Haft gedroht. Die Staatsanwaltschaft hatte 13 Jahre beantragt.

Nawalnys Sprecherin Jarmysch befürchtet, dass er nun als "Wiederholungstäter" eingestuft und in ein Lager mit härteren Haftbedingungen deutlich weiter weg von Moskau gebracht werden könnte. "Es wird dann praktisch unmöglich sein, Zugang und Kontakt zu ihm zu haben." Es werde alles getan, ihn vorher in Freiheit zu bekommen. Nawalnys Stiftung soll aus dem Ausland weiterarbeiten.

Bisher gelingt es dem Politiker immer wieder, über seine Anwälte Botschaften an die Öffentlichkeit zu bringen. So wurden zuletzt auch Nawalnys Aufrufe zu Protesten gegen Putins Krieg in der Ukraine in sozialen Netzwerken verbreitet.

Bundesregierung nennt Urteil Willkür

Die Bundesregierung kritisierte das weitere Urteil gegen Nawalny scharf. "Die heute verhängte, neue Gefängnisstrafe gegen Alexej Nawalny ist ein unverhohlener Akt der Willkür", erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amts. "Er reiht sich ein in die systematische Instrumentalisierung des russischen Justizsystems gegen Andersdenkende und die politische Opposition."

Das Verfahren habe praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien seien außer Acht gelassen und keinerlei stichhaltige Beweise präsentiert worden. Die Bundesregierung forderte erneut die sofortigen Freilassung Nawalnys.

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte Nawalnys "sofortige und bedingungslose Freilassung". Die Umstände der Verurteilung seien "der deutlichste Hinweis darauf, dass das russische Rechtssystem weiterhin gegen Herrn Nawalny instrumentalisiert wird", erklärte er in einer Mitteilung.

US-Regierung: Strafe politisch motiviert

Nach Ansicht der US-Regierung handelt es sich bei der erneuten Verurteilung Nawalnys um einen "politisch motivierten" Schuldspruch. Das "haarsträubende" Strafmaß von insgesamt neun Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis sei die Fortsetzung der Kampagne des Kremls gegen Nawalny, erklärte das US-Außenministerium. Moskau verfolge Nawalny nur, weil er ein Regierungsgegner sei, der zudem die Korruption in Russland bekämpfen wolle, hieß es weiter. Nawalny müsse "sofort und bedingungslos" freigelassen werden, forderte das Ministerium.

Nawalnys Frau: "Werden auch diese Aufgabe meistern"

Nawalnys Ehefrau Julia, die ihn immer wieder besucht hatte im Straflager - auch an den Verhandlungstagen - zeigte sich gefasst. "Wir sind bereits mehr als 20 Jahre zusammen, und Jahr für Jahr lernen wir, gute Eltern und gute Ehepartner zu sein", schrieb Julia Nawalnaja bei Instagram. "Und wenn wir durchgehend Druck standhalten müssen, dann werden wir auch diese Aufgabe meistern." Dazu postete Nawalnaja ein Foto, das sie, Alexej und die beiden gemeinsamen Kinder Darja und Sachar zeigt. "Ich liebe dich, mein teuerster Mensch auf dieser Welt", beendete die 45-Jährige ihren Beitrag. "Und bereits seit vielen, vielen Jahren höre ich nicht auf, stolz auf dich zu sein."

Präsident Putin weist jede Beteiligung am dem Giftanschlag auf Nawalny zurück. Die EU hat wegen des Attentats Sanktionen gegen Russland verhängt. Der Politiker war nach seiner Genesung in Deutschland, wo ihn die damalige Kanzlerin Angela Merkel in der Charité in Berlin besucht hatte, vor mehr als einem Jahr nach Russland zurückgekehrt. Er wurde am 17. Januar 2021 am Flughafen in Moskau festgenommen, weil er gegen Auflagen in einem anderen Strafverfahren verstoßen haben soll.

Die russische Justiz warf ihm vor, während seiner Genesung in Deutschland in der Heimat gegen Meldeauflagen verstoßen zu haben. Ein Gericht wandelte daraufhin eine Bewährungsstrafe aus einem früheren Verfahren wegen angeblichen Betrugs in Straflager-Haft um.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte das neue Urteil als "schockierend". Nawalny werde bestraft dafür, dass er Putins "System aus Korruption und Machtmissbrauch" herausgefordert habe. "Die Welt darf das Urteil und seine Bedeutung inmitten des Horrors von Russlands Aggression in gegen die Ukraine nicht übersehen."

© dpa-infocom, dpa:220322-99-620978/13