Interview
Karl Lauterbach: "Wir müssen alle unsere Kontakte deutlich einschränken"

26.10.2020 | Stand 21.09.2023, 7:08 Uhr

Karl Lauterbach

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt auch in Deutschland deutlich an. Droht jetzt ein Kontrollverlust?
Karl Lauterbach: Ein Kontrollverlust steht unmittelbar bevor. Wir sind in einer sehr kritischen Phase. Wenn wir in den nächsten zwei Wochen das Steuer nicht herumgerissen bekommen, müssen wir danach einen Kontrollverlust fürchten. Zum jetzigen Zeitpunkt könnten wir den deutlichen Anstieg der Infektionszahlen noch eindämmen. Wir haben noch die Möglichkeit, einen Sonderweg in Europa zu gehen. Das Fenster schließt sich aber deutlich.

Wie lässt sich ein weiterer Anstieg noch verhindern?
Lauterbach: Wir brauchen zunächst einmal einen Strategiewechsel in der Kommunikation. Das Hauptproblem sind mittlerweile nicht mehr nur vor allem die privaten Feiern und große Hochzeiten. Wir haben inzwischen so viele Fälle, die sich auf alle Bevölkerungs- und Altersgruppen verteilen. Es reicht jetzt nicht mehr, sich an die Regeln zu halten und nicht mehr an privaten Feiern und Hochzeiten teilzunehmen. Wir müssen alle unsere Kontakte deutlich einschränken. Das heißt: Weniger Freunde treffen, weniger Restaurantbesuche, weniger ins Kino und zu Sportveranstaltungen gehen. Die Einhaltung von Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken allein, ohne die Zahl der Kontakte zu begrenzen, reicht nicht mehr aus. Die Bürgerinnen und Bürger sollten auf größere Treffen und Feiern in ihren Wohnungen verzichten. Wir brauchen auch Regeln für das private Umfeld.

Droht jetzt ein Lockdown?
Lauterbach: Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein kompletter Lockdown zum Glück noch nicht nötig. Eine äußerst wichtige Möglichkeit wäre jedoch ein sehr kurzer, zeitlich eng begrenzter Teil-Lockdown. Noch können wir in Deutschland über die Verringerung der täglichen Kontakte die Situation unter Kontrolle bringen. Andere Länder in Europa können das wahrscheinlich nicht mehr. Die nächsten drei Wochen werden zeigen, ob dies gelingt oder nicht.

Manche Gesundheitsämter können die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehen. Wären Kontakttagebücher eine sinnvolle Maßnahme?
Lauterbach: Das Führen von Kontakttagebüchern wäre eine sinnvolle Maßnahme. Wir sollten uns auf das sehr schnelle Aufspüren von Super-Spreader-Begegnungen konzentrieren. Die Quarantäne oder genauer gesagt Isolation der Mitglieder des Quellclusters sollte auf zehn Tage verkürzt und nach fünf Tagen getestet werden. Das ist die japanische Strategie. Die sollten wir auch anwenden.
Sollte es eine generelle Maskenpflicht geben?
Lauterbach: Nein, das wäre ein Fehler. Die positive Wirkung einer generellen Maskenpflicht auch auf Straßen und Plätzen oder gar im Wald ist wissenschaftlich nicht belegbar. Wir dürfen keine Maßnahmen beschließen, die nicht haltbar sind.

Die Regierung bereitet bereits eine Strategie für mögliche Corona-Impfungen vor. Kommt der Impfstoff noch in diesem Jahr?
Lauterbach: Nein, der Impfstoff kommt nicht früher als erwartet. Es wird im Frühjahr erste Impfungen für Risikopatienten geben. Aber für den großen Teil der Bevölkerung lässt der Impfstoff noch auf sich warten.

Interview: Andreas HerholzFoto: Bernd von Jutrczenka, dpa