Waidhofen
Hinterkaifeck bleibt im Dunkeln - auch 100 Jahre danach

Ein sechsfacher Mord, der zum Rätsel wurde

01.04.2022 | Stand 22.09.2023, 0:06 Uhr

Bis tief in die Nacht hinein kamen Menschen zum Gedenkstein von Hinterkaifeck und gedachten 100 Jahre nach dem Mord der Opfer. −Fotos: Ammer

Wer auf den sanften Hügel steigt, der sieht die Grablichter weit vor sich in der Nacht. Irgendwo links muss der Hof gestanden haben. Irgendwo links sind sechs Menschen gestorben, vor 100 Jahren.



Jemand hat Teelichter in den Acker gestellt. Vier davon flackern noch, die anderen sind erloschen. Wahrscheinlich geschah es in dieser Nacht auf den 1. April. Nur war sie dunkler damals, die Mordnacht.

Ohne den Schein der Waidhofener Kirche, der den Himmel jenseits der Bäume leuchten lässt. Und stiller. Viel stiller. Ein VW-Bus knirscht von hinten heran, frisst mit seinen Lichtern langsam Löcher in die dunkeltiefe Stimmung. Erst kehrt die Nacht zurück, dann die Stille. Der Weg führt sanft hinab zum Marterl vor dem einsamen Baum. Eine Kerze offenbart in ihrem Schein gerade so die Blätter einer welkenden Rose. Und unter dem Baum glimmen zwei Zigaretten.

Die beiden Frauen, die aus der Nacht heraus nur ihre Stimmen offenbaren, kommen aus Mühlried. Sie hatten auf Geisterjäger gehofft, wie vor zehn Jahren. Doch Hexana lässt sich nicht blicken an diesem späten Abend. Auch zwei junge Männer sind etwas erstaunt darüber, wie wenig dann doch los ist in der Mordnacht draußen am Marterl. Spaziergänger kommen und gehen, doch es ist zu kalt zum langen Verweilen, und die Neugierde schnell gestillt.

Wärmer haben es die Hinterkaifeck-Interessierten im Waidhofener Gasthof mit durchdachtem Menü: Brotsuppe, Steckrübeneintopf mit Gselchtem, Bauernkrapfen – alles Speisen, die es vor 100 Jahren in Hinterkaifeck hätte geben können. Um den kommerziellen Touch aus dem Abend herauszunehmen, geht das Geld an die Litauenhilfe. "Wir sind es den Opfern irgendwie schuldig, dass man den Tag ein bisschen anders verbringt. Stiller und pietätvoll. Deswegen haben wir diesen Rahmen gewählt."



Die Rezepte aus einer Waidhofener Gemeindechronik von 1920 habe sie nur etwas aufgemotzt, erzählt Sieglinde Bogenrieder. Auch, wenn es auf Hinterkaifeck wohl kaum täglich Kassler gab. Das sei damals ein Festtagsessen gewesen. "Das war ein richtig hartes Leben", bestätigt Experte Olaf Krämer. Er ist Administrator des Internetforums hinterkaifeck.net und Kurator der Ausstellung im Bayerischen Polizeimuseum Ingolstadt. Von wegen gute alte Zeit. Die Kindersterblichkeit war hoch, die Ställe der Tiere nicht umsonst dicht an der Stube. "Verabschiedet euch von der Vorstellung vom schönen warmen Haus", sagt er in die Runde. Zu der gehört Hans Fegert, der seinen Film "Hinterkaifeck – Symbol des Unheimlichen" mitgebracht hat.

Cilli, sieben Jahre alt, schreibt auf einer Schiefertafel in der Stube inmitten der Familie. Da hört die Pendeluhr auf zu schlagen. Stille. Im Film und unter den Zuschauern. "D’Uhr is steh bliem." Der Bauer steht auf. "Drauß is neamand." Eine Kuh muht – und ein Hinterkaifecker nach dem anderen findet in Fegerts Werk sein Ende. Wer der Mörder ist? "Ich weiß es nicht, ich kann darauf keine Antwort geben."

Ebenso wenig die übrigen Experten. "Es gibt immer was, das dagegen spricht", sagt Olaf Krämer mit Blick auf die vielen Theorien. Seine eigene behält er für sich, aus Rücksicht auf die Nachkommen. Doch los lässt ihn das Rätsel nicht, das Mysteriöse daran. In den Vorbereitungen zur Ausstellung hätten sie bislang unbekannte Akten gefunden. Ein Jackpot – zum Beispiel mit der Aussage einer Magd von 1937, sie habe nach dem Mord ein blutiges Hemd bei den Gabriels waschen müssen. Ein Puzzlestück?

Neben Glückstreffern gebe es viele Wichtigmacher, die behaupten, sie hätten Beweise. "Meist sind sie narzisstisch veranlagt", urteilt Krämer. Fakes erkenne man oft daran, dass Tinte und Papier nicht aus der Zeit stammten. Was ihn besonders stört: Wenn die Menschen, um die es geht, so schwarz-weiß gezeichnet werden. Andreas Gruber werde in den Akten auch als hilfsbereit und arbeitsam beschrieben. Sich an die Fakten halten, das ist Krämer wichtig. "Man sollte die Figuren heute nicht überzeichnen."

Viele Unterlagen von damals sind 1944 im Augsburger Justizgebäude verbrannt. Der Obduktions- und Spurenbericht zum Beispiel. Mit am Tisch sitzt Reinhard Wenzel, selbst über Jahre Leiter der Spurensicherung. "Da waren Tausende von Spuren", ist er überzeugt. Alleine von den Schaulustigen, die schon vor der Polizei durch den Tatort gelaufen waren. Ein Alptraum für jeden Spurensicherer. Und: "Man hätte auch von den Toten Fingerabdrücke nehmen müssen." Auch damals habe es schon regionale Dateien mit Fingerabdrücken gegeben. Doch ein Ermittler habe einen Tag Zeit. Und Wenzel fragt sich: Wieso musste alles so schnell gehen?



Es hätte Bargeld da sein müssen, 100.000 Mark etwa, spricht Jasmine Kaptur, ebenfalls federführend für die Ausstellung in Ingolstadt verantwortlich, ein weiteres Rätsel an. Immerhin wollten die Hinterkaifecker den Stall erweitern, hätten sich Geld geliehen. Die Stahlstützen für den Anbau seien schon auf einem der Bilder zu sehen. Mit den Fotografien jener Zeit hat sie sich als Diplommeteorologin eingehend beschäftigt. Anhand des Schattenwurfs kann sie fast auf den Tag berechnen, wann im Jahr welches Bild aufgenommen wurde. Wieder ein Mosaiksteinchen im Mythos Hinterkaifeck.

Die Waidhofener Kirchenglocken schlagen 23 Uhr. "Da hätte die Kuh soviel muhen können, wie sie gewollt hätte", sagt die Mühlriederin draußen auf dem Bankerl hinein in die Dunkelheit. "Ich wär nicht mehr rausgegangen." Das können die Umstehenden nur bestätigen. Dennoch sind sie da. 100 Jahre später. Hinausgezogen in diese unvergessene Nacht, die dem Andenken an die Toten von Hinterkaifeck gehört.

− pnp