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Die Angst im Kopf

22.09.2016 | Stand 19.09.2023, 21:03 Uhr
Charlott Friederich

− Foto: dpa

2016 ist das Jahr der Ängste. Terror, Extremismus und Flüchtlingskrise treiben die Sorgen der Deutschen auf Spitzenwerte. Woran erkennt man diese Verunsicherung, und ist sie begründet? Eine Suche nach Symptomen und Erklärungen für die jüngste Verstimmung im kollektiven Bewusstsein.

"Go.Go.Go! Maximales Stresslevel! Auf der Straße könnt ihr keine Pausen einlegen", schreit Markus Moors, Selbstverteidigungstrainer und Besitzer des "KravMaga-FightClubs". In einem Tanzstudio in Hengersberg (Landkreis Deggendorf) mit flauschiger Sitzecke, lila Kunst-Orchideen und einer Hawaii-Bar winden sich 16 in Schwarz gekleidete Schüler – zierliche Blondinen wie bullige Bodybuilder – auf dem blitzblanken Parkettboden. Gerade üben sie den effektiven Befreiungsschlag aus dem Würgegriff des Gegners – eine der Grunddisziplinen im "Straßenkampf". Beim Krav Maga – ursprünglich Nahkampftechnik der israelischen Armee – gibt es keine Disqualifikation, keine ethischen Grundsätze. "Eigentlich sind alle aus dem gleichen Grund hier", sagt Markus Moors. "Sie suchen nach kompromisslosen Lösungen gegen reale Angriffe und Bedrohungen." Das Training soll seinen Schülern helfen, wieder beruhigt und mit neuem Selbstvertrauen durch den Alltag zu gehen.

Doch was beunruhigt die Schüler von Markus Moors und viele andere in Deutschland eigentlich?

"Ich habe das Gefühl, dass die Lage hierzulande immer brenzliger wird," sagt Harry (42) aus Deggendorf, seit sieben Wochen Mitglied des FightClubs. "Es passiert einfach immer mehr. Man hört ja ständig Geschichten, liest von gewalttätigen Übergriffen in der Zeitung und auf Facebook. Ich möchte mich und meine Frau einfach besser beschützen können."

Und auch die 28-jährige Nadine aus Bodenmais sagt: "So schlimm wie jetzt war‘s noch nie. Man vertraut niemandem mehr, nicht der Polizei und schon gar nicht der Politik. Wir sind auf uns selbst gestellt."

Genauer können oder wollen die Krav-Maga-Schüler die Ursache ihres Unbehagens nicht benennen. Eine kurze Umfrage zeigt jedoch: Die Mehrheit hat sich nicht aufgrund eigener negativer Erfahrungen oder konkreter Bedrohungen im FightClub angemeldet. Vielmehr sind es die "allgemeine Stimmung im Bekanntenkreis" und das subjektive Bedürfnis nach mehr Sicherheit, die sie dazu bewogen haben, ihre Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Und natürlich der sportliche Aspekt der anspruchsvollen Kampftechnik – wie mancher anfügt.

Die Deggendorfer Selbstverteidigungsschüler spiegeln einen gesellschaftlichen Trend wider, glaubt man aktuellen Studien. So fand das Meinungsforschungsinstitut Allensbach für den Verband der Deutschen Versicherungswirtschaft jüngst heraus, dass mehr als ein Viertel aller Deutschen zwischen 30 und 60 Jahren befürchten, Opfer eines Terroranschlags oder eines anderen Gewaltverbrechens zu werden – doppelt so viele wie noch im letzten Jahr. Und auch die seit 25 Jahren regelmäßig erhobene Angststudie der R+V-Versicherung beweist: Nie zuvor sind die Ängste der Deutschen so drastisch gestiegen wie im Jahr 2016.

"Diese Entwicklung ist nachvollziehbar", weiß Prof. Dr. Peter Zwanzger, Angstforscher und Ärztlicher Direktor am Inn-Salzbach-Klinikum in Wasserburg. "Es ist die Unvorhersehbarkeit eines Verbrechens oder eines terroristischen Ereignisses, die in einem friedlichen Menschen ganz große Sorgen auslösen kann. Wenn man, wie beispielsweise beim Amoklauf in München, mit einer Situation konfrontiert ist, bei der niemand weiß, wie es ausgeht, verunsichert das Jeden. Wie man dann damit umgeht, ist jedoch eine Frage der Persönlichkeit."

Dass die Reaktionen auf eine subjektiv empfundene Bedrohungslage unterschiedlich stark oder schwach ausfallen können, scheint einleuchtend, verallgemeinernde Aussagen diesbezüglich zu treffen, ist daher schwierig. Doch es gibt Indizien, dass die Unsicherheit auch außerhalb der Großstädte wächst. So sind die Antragszahlen für den kleinen Waffenschein in der Region im Vergleich zu den Vorjahren geradezu explodiert (siehe Graphik), in Landkreisen und Gemeinden – hierzulande beispielsweise in Dingolfing-Landau und in Deggendorf – patrouillieren Bürgerwehren, und in einem Passauer Copyshop steht dosenweise Pfefferspray neben der Kasse, wie die Versuchungs-Schokoriegel im Supermarkt.

Für Institutionen wie den FightClub von Markus Moors bedeutet diese Verunsicherung der Leute ein gutes Geschäft. Besonders nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht seien die Anmeldungen in seinem Club nach oben geschnellt, erzählt Moors – von 162 auf 231 Mitglieder in der ersten Häfte dieses Jahres. Ähnliches berichtet auch Elmar Griesbauer, Lehrbeauftragter des Bayerischen Karate Bunds: Nachdem in den Medien über Übergriffe von Asylbewerbern auf weibliche Badegäste berichtet wurde, sei die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen um rund 20 Prozent gestiegen. Bei einigen seiner Schüler stelle er sogar bereits eine Art "islamistische Angst" fest, berichtet der Karate-Profi. Und auch Angstforscher Peter Zwanzger bestätigt: "Immer mehr Menschen sind hochgradig irritiert durch die aktuellen Lage."

Doch der Wissenschaftler weiß solche Reaktionen einzuordnen: "Wenn sich Ereignisse, die wir nicht gewohnt sind, häufen und jedes von ihnen medial ausgeschlachtet wird, ist es absolut nachvollziehbar, dass sich die Leute Gedanken machen. Es wäre eher unnatürlich, wenn jemand, angesichts der aktuellen politischen Situation, mit den Achseln zuckt."

Zu viel Angst kann krankmachen

Gefährlich werde aber ein "Überborden" der Angst: Dauere das ungute Gefühl zu lange an, könne es den Angst-Geplagten in seiner Alltagsführung behindern, ja ihn sogar krank machen. "Man muss die goldene Mitte finden zwischen dem Umgang mit tatsächlicher Bedrohung und der Überbewertung von angeblichen Gefahren", mahnt Zwanzger.

Bei der Suche nach der "goldenen Mitte", hilft der Blick auf die jüngsten Kriminalstatistiken. Lasse man ausländerrechtliche Delikte wie illegale Grenzübertritte oder Verstöße gegen das Asylverfahrensgesetz unberücksichtigt, habe man 2015 im Bereich der Gesamtkriminalität einen höchst erfreulichen Rückgang der Fallzahlen um 2,1 Prozent verbuchen können, heißt es hierzu aus dem Polizeipräsidium Niederbayern. Und auch im südlichen Oberbayern sind die Straftaten im letzten Jahr – Verstöße gegen das Ausländerrecht ausgeschlossen – um rund 6 Prozent gesunken. Zwanzger: "Dieser Gegensatz zwischen Faktenlage und subjektem Unsicherheitsempfinden zeigt: Diese Ängste sind zu großen Stücken irrational." Auch wenn es natürlich immer Menschen gebe, die tatsächlich schlechte Erfahrungen gemacht haben, überfallen oder bedroht worden sind.

Trotzallem fällt die Prognose des Wissenschaftlers für die Gefühlslage der Gesamtgesellschaft zuversichtlich aus: "Angst kann nicht ewig halten. Die Kurve wird früher oder später wieder nach unten gehen." Auf Dauer werde sich die Bevölkerung an die veränderte Lage gewöhnen und nicht mehr täglich über mögliche Bedrohungen etwa durch religiös oder politisch motivierte Anschläge nachdenken.