Großbritannien
Der "Geruch des Todes" - Um Boris Johnson wird es einsam

Von Benedikt von Imhoff, dpa

06.07.2022 | Stand 20.09.2023, 4:06 Uhr
Benedikt von Imhoff

−Foto: Bernat Armangue/AP/dpa

Der Politzauberer Boris Johnson verliert seine Magie. Korruption, erratisches Krisenmanagement und jüngst die "Partygate"-Affäre: Nichts schien dem britischen Premierminister schaden zu können. Der konservative Regierungschef galt als Gewinnertyp. Doch damit ist nun Schluss. Die Zeitung "Guardian" gab am Mittwoch die derben Worte eines Abgeordneten wieder, der Johnson in dessen knapp drei Jahren Amtszeit bisher stets verteidigt hatte. "Ich bin im Arsch, wenn ich das je wieder tue." Diese Einschätzung ist bei den Konservativen inzwischen ziemlich weit verbreitet.

Den Startschuss zur offenen Rebellion gaben Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid. Die beiden bisherigen Schwergewichte im konservativen Kabinett erklärten am Dienstagabend praktisch zeitgleich ihre Rücktritte. Sie gelten nun auch schon als mögliche Nachfolger. Um Johnson wird es sehr einsam. Die Reihen lichten sich gerade fast im Stundentakt - stets garniert mit scharfer Kritik am Führungsstil des 58-Jährigen.

Die BBC zitierte einen Politiker der konservativen Tory-Partei, der lieber anonym bleiben will, mit den Worten, er vernehme einen "Geruch des Todes" im Regierungsbezirk Westminster. Außer den verbliebenen Kabinettsmitgliedern gibt es niemanden, der Johnson öffentlich verteidigt. "Diejenigen, die nicht zurücktreten, wissen, dass sie ihre Posten unter einem neuen Premier verlieren werden", sagt der Politologe Mark Garnett der Deutschen Presse-Agentur.

"Eine Mehrheit in der Partei will einen Wechsel"

Der Experte von der Universität Lancaster vermutet, dass Johnsons Partei nun alles daran setzen wird, ihren Chef loszuwerden. Der frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve warnte, die Partei werde "zerstört", falls Johnson nicht gehe. "Eine Mehrheit in der Partei will einen Wechsel", sagte der Abgeordnete Chris Loder dem Sender BBC Radio 4. Die Opposition fordert vehement Neuwahlen. In den Umfragen liegt sie vorn.

Da Johnson erst vor kurzem ein parteiinternes Misstrauensvotum überlebt hat, ist er eigentlich für ein Jahr vor einem neuen Abwahlantrag gefeit. Doch die Rebellen könnten schon kommende Woche die Regeln ändern. Damit wäre ein weiteres Votum noch vor der Sommerpause des Parlaments möglich, sagt Garnett.

Bisher gilt als ausgeschlossen, dass Johnson freiwillig sein Amt aufgibt. Die verbliebenen Verbündeten streuen, der Premier sei kampfeslustig. "Scheiß drauf", soll er auf die Frage nach seinem Rücktritt geantwortet haben, berichtete die "Times". Garnett sagte voraus: "Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen." Dem Online-Portal "Politico" sagte ein ehemaliger Johnson-Berater, der Premier könne eine "Politik der verbrannten Erde" fahren und andere mit in den Abgrund reißen.

Johnson muss sich Fragen der Abgeordneten stellen

Unter Druck hat Johnson bisher zwar noch immer am Besten funktioniert. Doch was den Regierungschef noch am Mittwoch im Parlament erwartete, ist eine andere Nummer als bisher. Wenn er sich im Unterhaus traditionell den Fragen aller Abgeordneten stellt - und dann am Nachmittag auch noch einem Parlamentsausschuss - dürfte er kaum noch Rückhalt spüren. Auch konservative Mitglieder kündigten harte Fragen an.

Im Mittelpunkt steht nun Johnsons Verhalten im Fall Chris Pincher. Nach tagelangen Beteuerungen, keine Ahnung von Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen seinen Parteifreund gehabt zu haben, als er ihn im Februar in ein wichtiges Fraktionsamt hievte, musste Johnson am Dienstagabend eingestehen, dass er doch informiert gewesen sei. Dem folgte die typische Reaktion: Er entschuldige sich, gelogen habe er aber nicht.

Nun wartet das Land gespannt, ob das politische Stehaufmännchen Johnson auch diese Krise meistert, die schwerste bislang. Obwohl alle Vorzeichen gegen ihn sprechen, schließen auch Gegner nicht aus, dass er sich doch wieder irgendwie rettet. "Eigentlich hat er alle Leben einer Katze längst verloren", sagt ein EU-Diplomat. Der Tory-Rebell Andrew Mitchell verglich Johnson in der BBC mit dem legendären russischen Zarenberater Rasputin, der mehrere Mordversuche überlebt haben soll. "Er wurde vergiftet, auf ihn wurde eingestochen, geschossen, sein Körper wurde in einen eiskalten Fluss geworfen - und er ist immer noch am Leben."

Kein offensichtlicher Nachfolger in Sicht

Vor dem "Boris-Kult" haben Johnsons Kritiker großen Respekt. Der hemdsärmelige Premierminister gilt vielen Konservativen als einziger Kandidat, der Wahlen gewinnt. Zudem sei nach wie vor kein offensichtlicher Nachfolger in Sicht, sagte Experte Garnett. Als aussichtsreichster Kandidat wird nach seinem Rücktritt wieder der bisherige Finanzminister Sunak gehandelt. Auch seinem Nachfolger Nadhim Zahawi und Außenministerin Liz Truss werden Ambitionen nachgesagt. Beide stellten sich aber demonstrativ hinter den Premier.

Gefahr könnte Johnson aus der Hardliner-Ecke der Konservativen drohen. Hier scheint sich vor allem der frühere Brexit-Minister David Frost in Stellung zu bringen. Er habe lange gehofft, dass der Premier derjenige sein werde, der eine traditionelle konservative Version umsetzen werde, schrieb Frost jetzt im "Telegraph" - ausgerechnet in der Zeitung, für die Johnson selbst lange als Kolumnist tätig war. "Aber mir ist klar geworden, dass er es trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten einfach nicht ist." Frosts Fazit: "Es ist Zeit für Boris Johnson zu gehen."

Solche Vorstöße haben den Regierungschef bisher nie gestört. Johnson selbst denkt ohnehin groß. Er könne sich eine dritte Amtszeit bis in die 2030er Jahre hinein gut vorstellen, sagte er jüngst. Zuvor muss er aber seine erste überstehen. Offizielles Ende: 2024.