Neuburg
"Die Schleuser sind Mörder"

Der Neuburger Bert Schuler hat zwei Wochen lang vor der libyschen Küste Ausschau nach Flüchtlingsbooten gehalten

03.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:28 Uhr

Während der Rettungsaktion helfen deutsche und spanische Freiwillige und ein irisches Militärboot zusammen (links). Dass die Aktion auch für Bert Schuler nicht ganz ungefährlich war, zeigt das Bild rechts: Sein Schlauchboot schlug Leck.

Neuburg (DK) Der Neuburger Bert Schuler hat sich entschieden, nicht tatenlos zuzuschauen: An Bord der Sea-Eye hat er zwei Wochen lang Ausschau nach Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer gehalten - und zahlreiche Menschen vor dem Tod bewahrt. Dabei begab er sich auch selbst in Gefahr.

Wasser, so weit das Auge reicht. Wellen, die bis zum Horizont rhythmisch hin und her schwappen. Und Himmel, blau, und wolkenlos. In dieser scheinbaren Idylle im Mittelmeer schippert der Neuburger Bert Schuler auf einem Boot namens Sea-Eye. Doch der Schein trügt. Denn das Meer zwischen Libyen und Italien ist kein Paradies. Es ist ein Massengrab.

Der 49-Jährige ist mit sieben Mitstreitern vom maltesischen Valletta in Richtung libyscher Küste aufgebrochen. Hier, in internationalen Gewässern, patrouilliert die Sea-Eye auf und ab, Tag für Tag, Woche für Woche. Sie ist eines von vielen Schiffen, die nach Flüchtlingsbooten Ausschau halten - Seenotrettung, darum geht es. Der Ingenieur aus Neuburg ist einer der Freiwilligen an Bord, vierzehn Tage lang.

Und dann, an einem Mittwoch wie jedem anderen, passiert es. In der Ferne entdeckt die Crew der Sea-Eye weiße Punkte am Horizont. Sie nähert sich behutsam - und irgendwann steht fest: Hier treiben zwei Flüchtlingsboote auf offenem Meer, heillos überladen. "Diese Boote würden niemals Festland erreichen", ist sich Schuler sicher. "Auf sechs bis sieben Metern quetschen sich 150 Mann." Nun ist der Zeitpunkt gekommen, auf den sich die Mannschaft vorbereitet hat, sie weiß, was zu tun ist, Handgriff für Handgriff. Gemeinsam mit zwei anderen Freiwilligen steigt Bert Schuler in ein kleines Beiboot. Im Gepäck: Schwimmwesten, denn die sind überlebensnotwendig. Kentert ein Boot mit Flüchtlingen, ist es für die Retter nahezu unmöglich, alle lebend aus dem Wasser zu bergen. "Wir haben dann versucht, den Leuten klarzumachen, dass sie noch ein Stückchen weiter müssen, raus aus libyschem Gewässer", sagt Schuler. Denn sonst kann es gefährlich werden für die Helfer aus Europa. Militärische Schnellboote, mitunter bewaffnet, haben in der Vergangenheit laut Aussage Bert Schulers bereits Rettungsschiffe geentert und versucht, die Besatzung nach Tripolis zu bringen - allerdings erfolglos.

Die Sea-Eye wartet derweil in 600 Metern Abstand - Verstärkung ist bereits alarmiert. Denn das Team rund um Schuler ist nicht dafür ausgestattet, die Flüchtlinge auf ihr kleines Boot zu holen - sondern sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. "Mit auf unserem Beiboot war auch eine Frau, die als Kommunikator fungiert hat", erzählt der 49-Jährige. "Sie hat den Leuten erklärt, dass sie nun in Sicherheit sind. Es gab schon Fälle, da haben die Flüchtenden Panik und Angst vor den Rettern bekommen." Dreimal fährt das Schlauchboot mit Schuler und den anderen beiden zur Sea-Eye und wieder zurück, um alle mit Schwimmwesten zu versorgen. Keiner ist dem ersten Anschein nach krank oder verletzt - sie hätte die Sea-Eye ansonsten sofort aufgenommen und versorgt, für diese Fälle ist ein Arzt dabei. "Auf dem einen Boot waren 118, auf dem zweiten 126 Leute", sagt Schuler. "Hauptsächlich junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren, zehn Prozent Frauen. Und einige Kinder waren auch dabei." Und wer ebenfalls immer in der Nähe ist: die Schleuser auf kleinen Motorbooten. Denn die wollen, sobald ihre "Kundschaft" gerettet ist, die Schlauchboote zurück. Das allerdings unterbindet seit einiger Zeit eine multinationale, militärische Einsatzgruppe unter der Flagge von Frontex - die Boote werden zerstört. So auch in diesem Fall.

Ohne Essen, ohne Trinken, nur mit der Kleidung, die sie am Leib tragen - so machen sich die Flüchtlinge in Libyen auf den Weg in Richtung Europa, auf den Weg in eine bessere Zukunft. Ob sie wissen, auf was sie sich mit der Überfahrt über das Mittelmeer einlassen, das weiß Bert Schuler nicht. Werden sie nicht entdeckt, droht der sichere Tod. "Die Schleuser sind Mörder", sagt er deshalb. Die Flüchtlinge, die die Sea-Eye erspäht hat, haben Glück. Nachdem ihnen die Crew die Westen gegeben hat, kommt bald Verstärkung. Ein irisches Militärschiff nimmt sie auf und bringt sie heil nach Italien. Derweil kämpft jedoch Schuler mit einem ganz anderen Problem: Beim dritten Andocken an das Flüchtlingsboot reißt deren Motor ein Loch in das Schlauchboot, in dem der Neuburger sitzt - "da spürt man schon eine gehörige Portion Adrenalin", erinnert er sich. "Es war nicht lebensgefährlich, aber schon Stress." Die vordere Seite des Bootes ist komplett ohne Luft, die Mannschaft versucht, die Wellen des Mittelmeeres abzuwehren, indem sie den kaputten Schlauch mit vereinten Kräften nach oben zieht. "Deswegen konnten wir auch nicht mit den Flüchtenden sprechen", berichtet der 49-Jährige. "Spanische Kollegen haben dann unseren Job übernommen und haben gewartet, bis das Militär da war." A propos Militär: Das greift nur ein, wenn ein Boot wie die Sea-Eye den Notfall ausruft - ansonsten nicht. "Offiziell sind sie da, um die Schleuser zu bekämpfen, nicht um Flüchtlinge zu retten. Das ist politisch nicht gewollt."

Zurück in Neuburg, an seinem Schreibtisch in Rödenhof, denkt Schuler schon an den nächsten Einsatz im Mittelmeer, vielleicht geht es in wenigen Wochen wieder nach Malta. "Es geht einfach nicht, dass man nichts tut", erklärt er seine Motivation. "Ich habe keine politische Lösung, aber man kann die Leute nicht ertrinken lassen. Wenn niemand die Flüchtenden rettet, dann sind alle zu 99,9 Prozent tot." Allein heuer ist jeder 37. Flüchtling, der die libysche Küste verlassen hat, nicht lebend in Europa angekommen, sagt Schuler. "Und das sind nur die Zahlen, von denen wir wissen. Die Dunkelziffer ist viel höher."

Wer die Seenotrettung Sea-Eye unterstützen will, hat dazu die Möglichkeit unter folgendem Konto: Sea-Eye e. V., IBAN DE60 7509 0000 0000 0798 98, BIC: GENODEF1R01, Volksbank Regensburg, Stichwort: "Sea-Eye".