Die Allergiezeit wird immer länger

Warum das so ist, erklärt der Allergologe Dr. med. Claus Gruss im Interview

01.04.2023 | Stand 17.09.2023, 0:10 Uhr
Lea Schöffberger

Heuschnupfen ist lästig. Im schlimmstem Fall können Allergien aber sogar tödlich sein, sagt Allergologe Dr. med. Claus Gruss. −Foto: dpa

Immer mehr Pollenallergiker und eine immer länger werdende Allergiezeit: Der Allergologe und Dermatologe Dr. med. Claus Gruss (54)erklärt im Passauer Gespräch, was dahinter steckt und was diese Entwicklung für uns bedeutet.

Ist es richtig, dass der diesjährige „Allergiestart“ früher stattfand als in früheren Jahren?
Mit der Klimaerwärmung kommt der „Allergiestart“ immer früher und wird auch wahrscheinlich immer länger währen, denn aufgrund der Temperaturerhöhung fangen Pflanzen früher an zu blühen. Das betrifft nicht nur schon länger heimische Gewächse, sondern auch hochallergene Pflanzen wie das beifußblättrige Traubenkraut, auch bekannt als Ambrosia, das wie viele andere Pflanzen vom Menschen in unsere Region eingeschleppt wurde und aufgrund der Erwärmung nun auch in unseren Gefilden wachsen kann.

Werden die Pollen tatsächlich immer aggressiver?
Eingeschleppte Pflanzen sind oft deutlich allergener und giftiger als einheimische. Es sind also nicht nur die alteingesessenen Gewächse, auf die wir allergisch reagieren, sondern es kommen durch die weltweite Vernetzung und v.a. durch den Klimawandel hochallergene, invasive Pflanzen hinzu. Zu meiner Ausbildungszeit hat man das Traubenkraut z.B. noch gar nicht gekannt, das ist erst vor etwa 15 Jahren hierher gekommen. Warum die Pollen immer aggressiver werden, weiß man aber tatsächlich nicht genau. Zwei Theorien wurden mittlerweile aufgestellt. Eine ist, dass Pollen mit Umweltgiften wie Stickoxiden, Rußpartikeln etc. beladen sind und somit allergener werden. Normalerweise werden solche Gifte vom Körper erkannt und beseitigt. Möglich ist, dass es, wenn das Pollenallergen und das Umweltgift zusammen in den Körper gelangen, zu einer Fehlleitung bzw. Verwirrung des Immunsystems kommt. Es unternimmt jetzt nicht nur etwas gegen das Umweltgift, sondern auch gegen die harmlose Polle. Nach der zweiten Theorie leiden viele Pflanzen aufgrund des Klimawandels unter sog. Umweltstress. Verschiedene Faktoren wie Wasserknappheit, immer höhere Temperaturen, der Mangel an Nährstoffen usw. führen zu einer „Angstblüte“ , sodass z.B. Bäume ihre Ruhezeiten verkürzen und öfters als gewöhnlich Pollen bilden, um ihr Überleben zu sichern. Egal, welche Theorie mehr zutrifft: Allergien sind auf jeden Fall stark im Kommen, das wird immer mehr werden in den nächsten Jahren.

Welche Bäume und Sträucher blühen typischerweise als erstes?
Im Prinzip haben wir inzwischen das ganze Jahr Allergiesaison. Der November ist der einzige Monat, in dem sich nicht groß etwas tut. Aber selbst da gab es in der Vergangenheit schon einige Saharastürme, durch den Pollen bis in unsere Regionen herübergeweht wurden und so auch in diesem Monat die Allergiker nicht verschont blieben. In der Natur macht – in warmen Wintern schon im Dezember – die Hasel den Anfang. Dieses Jahr startete die Saison der Haselpollenallergiker Anfang Januar. Jetzt im April ist dann die Birke an der Reihe.

Wie kann man herausfinden, ob man von einer Pollenallergie betroffen ist?
Wenn Sie im Frühjahr Niesattacken, geschwollene und brennende Augen und eine laufende Nase haben, sind das typische Hinweise für eine Allergie. De facto wird in den Leitlinien der Allergologen gefordert, dass in diesem Fall bei einer Untersuchung die Anamnese, also die Krankheitsgeschichte, der Hauttest und der Bluttest übereinstimmen müssen. Das halte ich auch für sinnvoll, denn die häufigste Fehlerquelle bei Diagnosen ist, dass hier unvollständig gearbeitet wird. Im Anschluss an die Anamnese sollte zunächst ein Prick-Hauttest durchgeführt werden, um potenzielle Allergien festzustellen. In diesem Test werden die Allergene zusammen mit einer Lösung auf die Haut gepiekst. Nach zwanzig Minuten wird kontrolliert, bei welchen Stoffen eine Reaktion erfolgt ist. Anschließend wird Blut abgenommen und auf IG-E Allergie-Antikörper untersucht. Hierbei wird überprüft, ob sich die Allergieantikörper aus dem Blut gegen die gleichen Allergene richten, die beim Prick-Test identifiziert wurden. Ist das der Fall, kann man sich ziemlich sicher sein. Wichtig ist: Man darf drei Tage vorher keine Allergiemedikamente einnehmen, sonst ist der Haut-Test nicht aussagekräftig. Der Bluttest ist hingegen unabhängig davon.

„Jeder darf auf sein Schild ,Allergologie‘ schreiben“

Wird denn auch immer so gearbeitet?
Oftmals leider nicht. Oft werden über die Jahre von verschiedenen Ärzten verschiedene Allergietests durchgeführt und am Ende heißt es: „Jetzt sind es schon so viele Allergien, da brauchen wir jetzt gar keine Therapie mehr anfangen. Und außerdem hinken Sie eh schon seit Jahren wegen eines nicht gescheit behandelten Beinbruchs und werden deshalb wohl noch öfter stürzen“. Viele Ärzte machen zwar den Prick-Hauttest, aber ohne die nötigen therapeutischen Konsequenzen einzuleiten. Entweder, weil ihnen das Wissen zu Behandlungsmöglichkeiten fehlt oder weil sie schlicht und ergreifend nicht behandeln oder ihr Medikamentenbudget belasten wollen.

Woran könnte das liegen?
Ein Kassenarzt kann Allergietests gut abrechnen. Anschließende Aufklärungs- und Beratungsgespräche über eine Behandlung sowie ursächliche Medikamente nehmen Zeit in Anspruch, die viele Ärzte sich nicht nehmen wollen oder können bzw. das Budget belasten. Meist bekommen Patienten nach einem Test nur ein „grünes“ Rezept für eine symptomatisch wirksame selbst zu kaufende Antihistaminika-Tablette oder für ein Nasenspray in die Hand gedrückt und das war’s dann auch. Das ist inzwischen leider Standard. Was mich persönlich immer besonders ärgert, ist, dass viele „Allergologie“ auf ihrem Praxisschild führen, obwohl fast keiner Allergologe ist. Jeder – egal, ob mit oder ohne Ausbildung – darf auf sein Praxisschild „Besondere Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Allergologie“ schreiben, oft auch nur mit „BUB Allergologie“ abgekürzt. Da werden immer wieder schlicht falsche Therapien eingeleitet und dann kommt der Patient frustriert zu mir und es heißt: „Wir haben schon alles probiert, es wirkt aber nichts.“ Bestimmt gibt es auch Praxen, die gute Allergologie machen, nur sind die eher rar gesät.

Was macht einen echten Allergologen aus?
Eine zwei- bis dreijährige Weiterbildung mit Abschlussprüfung von der Landesärztekammer. Für den Laien ist es natürlich schwer, auf Anhieb einen Unterschied zwischen Allergologe und Allergologie zu erkennen. Man muss aber auch sagen, dass es in Passau einfach sehr wenige professionelle Allergologen gibt. Ich kenne noch zwei weitere, bei denen aber ein Kassenpatient kaum Chancen auf einen Termin hat.

Was kann Heuschnupfen für Folgen haben?
Ich vergleiche das immer mit einem Riss im Donaudeich. Bei jedem Hochwasser, also wenn die Pollen fliegen, fließt da Wasser durch diesen Riss. Man kann nun mit einer Pumpe hinterm Deich das Wasser abpumpen, also mit Nasenspray, Augentropfen, Antihistaminika etc. die Symptome bekämpfen. Es kommt zu keiner Überschwemmung, man hat keine Symptome. Bei jedem Hochwasser reißt das Loch im Damm aber immer mehr ein, es kommen neue und immer mehr Allergien dazu. Irgendwann schaffen die Pumpen es nicht mehr, das Wasser hinterm Deich wegzupumpen, der Riss wird zu groß. Die Medikamente verhelfen also nicht mehr zur Besserung, da mittlerweile zu viele Allergien, allergisches Asthma etc. dazugekommen sind. Eine symptomatische Behandlung ist also auf Dauer der absolut falsche Weg. Ab etwa dem 60. Lebensjahr nimmt die Aktivität des Immunsystems ab und man ist deshalb bei diesen Patienten zurückhaltender mit einer ursächlichen Immuntherapie, weil – um bei meinem Beispiel zu bleiben – der Wasserstand in der Donau in diesem Fall sinkt. Vorher ist es aber immens wichtig, einer solchen Fehlsteuerung des Immunsystems mit ursächlicher Behandlung möglichst frühzeitig entgegenzutreten. Man sollte nicht dauerhaft das Wasser hinterm Deich wegpumpen, sondern, auch wenn es aufwendiger und langwieriger ist, anfangen, den Deich zu reparieren. Je später man mit einer solchen Therapie beginnt, desto langwieriger wird sie letztendlich dann auch sein.

„An allergischem Asthma kann man sterben“

Kann eine Allergie gefährlich werden?
In vielen Fällen entwickeln sich aus unbehandelten Allergien chronische Krankheiten oder Kreuzallergien. Natürlich kann es dann auch gefährlich werden. An allergischem Asthma z.B. kann man auch in jungen Jahren versterben. Bei längerem Bestehen entwickelt sich hieraus oft eine chronische Bronchitis, die die Lebensdauer verkürzt. Es können auch Kreuzallergien entstehen. Wenn man z.B. schon länger an einer Haselpollenallergie leidet, kann es mit der Zeit zu einer Haselnussunverträglichkeit kommen. Bezeichnet wird das auch als „orales Allergiesyndrom“. Auch hier lässt sich wieder festhalten: Nahrungsmittelunverträglichkeiten nehmen enorm zu. Wenn man im Internet nach kreuzreagierenden Nahrungsmitteln bei Baumpollen sucht, findet man bestimmt 20 Nahrungsmittel. Nüsse sind das Paradebeispiel: In fast jedem Kuchen oder Keks sind Spuren von Nüssen enthalten. Wenn man dann auch noch auf bestimmte Getreidearten allergisch wird, ist eine beschwerdefreie Ernährung schwierig.

Was kann man im Falle einer Erkrankung tun?
Auf alle Fälle eine ursächliche Behandlung machen. Eine Möglichkeit ist die „Spritzenkur“, bei der der Patient in bestimmten Abständen Spritzen verabreicht bekommt. Wer kein Freund von Spritzen ist, für den gibt es seit ein paar Jahren eine Alternative und zwar die ursächlichen Allergietabletten. Zunächst entwickelt für die Behandlung von Gräserallergie, gibt es sie mittlerweile auch für viele andere Allergien. Nicht zu verwechseln sind diese ursächlichen Tabletten mit den symptomatischen Antihistaminika-Tabletten, die im Volksmund auch als „Allergietabletten“ bekannt sind. Tabletten, welche die Ursache bekämpfen, nimmt man in der Regel ganzjährig ein. Sie werden einmal täglich für ca. vier Minuten unter die Zunge gelegt und anschließend entweder geschluckt oder ausgespuckt. Allerdings sind diese von allen Krankenkassen erstattungsfähigen Tabletten um ein vielfaches teurer als die nur symptomatischen Antihistaminika- Tabletten und auch etwas teurer als die Spritzenkur.

Wie wirken diese Spritzen und Tabletten?
Bei beiden Verfahren wird der Körper langsam an das jeweilige Allergen gewöhnt und so erreicht, dass im besten Fall keine allergische Reaktion mehr erfolgt. Beide Therapien sollten innerhalb von drei bis fünf Jahren zur Ausheilung führen. Früher haben Naturheiler und Homöopathen bei Allergien häufig geraten, Honig aus der Region zu essen. Das war gar nicht so verkehrt, denn der Honig war durch die heimischen Pollen verunreinigt und so wurde der Körper mit der Zeit an die Pollen bzw. das Allergen gewöhnt. Heute kommt der Honig aus verschiedenen Ländern weltweit, da funktioniert diese orale Rückkopplung natürlich nicht.

Gibt es auch Hausmittel, die Betroffene zu Hause selbst anwenden können oder bestimmtes Verhalten, das hilft?
Allergenkarenz schadet nie. So wie es Fliegengitter für Fenster gibt, gibt es auch Pollengitter, die man im Fenster anbringen kann. Der Nachteil ist: Diese Gitter sind ziemlich dicht, sodass sie für Luft nur schlecht durchlässig sind. Lüften sollte man nur bei geringem Pollenflug, und am besten sollte man auch eine Tagesdecke aufs Bett legen und sie vorm Schlafengehen wieder entfernen. Kleidung sollte man nicht im Schlafzimmer ablegen, denn die ist natürlich auch belastet. Sind die Symptome schon da, kann man freilich mit frei verkäuflichen Nasensprays, Allergietabletten usw. die Beschwerden lindern. Die Gefahr hierbei ist aber, dass man der Allergie dann keine Beachtung mehr schenkt und dann Jahr für Jahr so weitermacht, während schleichend immer mehr Allergien hinzukommen, immer mehr Organe betroffen sind und das Ganze dann in einer chronischen Erkrankung mündet. Mit der Überlegung „Vielleicht kommt die Allergie nächstes Jahr eh nicht mehr“ heranzugehen ist völlig falsch. Auch wenn der Pollenflug in einzelnen Jahren stark variieren kann, ist es genau andersherum: Wenn man nichts macht, kommt die Allergie die nächsten Jahre nur verstärkt wieder.


Interview: Lea Schöffberger