Chile: Viel Leben in der Atacama-Wüste

15.08.2015 | Stand 15.08.2015, 6:01 Uhr

Lamas werden eigentlich als Haustiere gehalten − diese hier haben sich wohl selbstständig gemacht. − Fotos: Lukas Lange

Für die trockenste Wüste der Welt schwimmt es sich eigentlich ganz gut hier. Aber wer so richtig eintauchen will in die schier unbeschreibliche Idylle zwischen Flamingos, dem flimmernden Sand und der surrealen Vulkankulisse, der hat ein Problem. Das liegt gar nicht mal an der Menschentraube, die das kleine Naturwunder für sich entdeckt hat und sich mit Strandtuch, teils sogar Sonnenschirm an die Oase gelegt hat. Sondern daran, dass die Laguna Cejar eine Art chilenisches Totes Meer ist: Hier schwimmt man bequem oben. Wie auch eine Gruppe kleiner Buben herausgefunden hat und deshalb ohne Schwimmflügelchen ins Nasse darf. Die mühelos binnen weniger Minuten zu durchschwimmende Lagune kommt auf 40 Prozent Salzgehalt. Das Tote Meer hat durchschnittlich 28.

Die Theorie vom Meteoriteneinschlag

Die Laguna Cejar ist nur eine der vielen Oasen, die in der Gegend um San Pedro de Atacama plötzlich abrupt im Wüstenboden auftauchen. Jede von ihnen erzählt eine andere Geschichte, sofern ihre Herkunft überhaupt geklärt ist. Im Falle der nahe gelegenen "Ojos del Salar" weiß niemand so recht, wie die beiden "Augen der Salzwüste" eigentlich entstanden sind. Einen Meteoriteneinschlag vermuten manche. Der Himmelskörper sei ins eine Augenloch hineingedonnert und aus dem anderen wieder herausgeschossen. Nur: Wo soll er dann liegen? Weit und breit ist nichts zu sehen, das nicht am frühen Abend weiterzieht: die Tourengeländewagen, auf die jeder angewiesen ist, der sich nicht mit einem Mietwagen hoffnungslos in der Atacama-Wüste verfahren will. Wenn es am frühen Abend zurückgeht nach San Pedro, dann hat es den Anschein, als habe sich eine Wüstenkarawane zusammengefunden, so viele Besucher verzeichnet die Atacama-Wüste mittlerweile zur Hauptsaison.

Das 3000-Seelen-Dorf war lange Zeit ein verschlafenes Nest. Schon vor 11000 Jahren besiedelten die ersten Menschen die Oase, 1450 gründeten die Inka eine Gemeinde. Dass das im Salpeterkrieg von Chile eroberte San Pedro irgendwann einmal zum nationalen Tourismusmagneten schlechthin avancieren würde, hätte selbst im vergangenen Jahrhundert noch niemand geahnt. Heute ist der Tourismus nicht wegzudenken, so viele Tourenanbieter werben mit Ausflügen quer durch die abwechslungsreiche Wüste. Wer hier arbeitet, der kommt meist aus der fast zweitausend Kilometer entfernten Hauptstadt Santiago. Auf Straßenmärkten werden traditionelle Stickereien verkauft, vor allem Mützen für die höheren Gefilde rund um die Wüste. Ein Grenzpass auf 4480 Metern führt ins Nachbarland, drei bis vier Tage lange Geländewagentouren starten von San Pedro in die größte Salzpfanne der Erde.

Eine der Touren will noch ein Stück höher: 4600 Meter hoch liegt das Geysirfeld von Tatio zu Füßen des gleichnamigen Vulkans − oder wie es die Ureinwohner sagen: "des rauchenden Vaters". Wer die dünne Luft nicht scheut, muss um vier Uhr morgens aufstehen, um das Spektakel zu erleben. Bis zu zwanzig Meter hoch dampfen rund 80 Geysire und unzählige heiße Quellen in die eiskalte Höhenluft, und jede einzelne Erdöffnung scheint ihr buchstäblich eigenes Süppchen zu kochen: Mal bringt das Erdinnere eine vor sich hinblubbernde braune Brühe hervor, an anderer Stelle hat der Druck von unten den Boden in winzige Krater aufgerissen. Wieder andere Löcher haben sich ins Andenmoos eingebettet oder weisen solche Salzablagerungen an ihren Rändern auf, dass man sie zunächst für Morgentau hält. Gemein ist den unzähligen Naturschauspielen nur eins: der starke Schwefelgeruch.

80 Grad Wassertemperatur

Fast so pünktlich wie ein Kirchengong hört das Spektakel gegen zehn Uhr morgens plötzlich auf. Die Luft ist zwischenzeitlich so warm geworden, dass die Dampfschwaden immer niedriger werden und schließlich ganz verschwinden. In den heißen Quellen brutzelt es bei teilweise über 80 Grad Wassertemperatur weiter. Zugänglich ist nur eine von ihnen: Dafür sind es umso mehr Besucher, die sich in dem immerhin nur 30 bis 40 Grad heißen Quellwasser tummeln, bis Alejandro, der Reiseführer, mit einem freundlichen "Chicos!" zum Bus ruft.

Die Rückfahrt spart die steile Schotterpiste aus, die in den frühen Morgenstunden auf schnellstem Wege vom Dorf aus ins Hochgebirge geführt hat. Stattdessen schlägt der Fahrer eine asphaltierte Route durchs Hochland ein – ein Erlebnis, das einem Tierparkbesuch in nichts nachsteht. Am Straßenrand läuft eine Herde Lamas vorbei, die sich offensichtlich selbstständig gemacht hat – immerhin werden die Kamelverwandten gänzlich domestiziert gehalten. Als der Minivan am Ufer einer der Salzlagunen vorbeifährt, flattert ein Flamingopaar davon. Mit ihren knallrot-schwarz-gefleckten Flügeln lassen die aufgeschreckten Vögel ihre rosafarbenen Artgenossen alt aussehen. José weiß, zu wem er hält: "Die Bunten − das sind die chilenischen, die gibt’s nur hier!" Eine nationale Besonderheit ist auch der Darwin-Nandu, obwohl er farblich inmitten eines wieder etwas wüstentypischeren Gerölls kaum hervorsticht: Der Vogel kommt nur im hohen Norden und äußersten Süden Chiles vor.

Plötzlich bleibt der Van abrupt mitten auf der Straße stehen. José springt aus dem Wagen und nimmt eine halbvolle Flasche Mineralwasser mit. Ein merkwürdiger Ort für eine Trinkpause, so mitten auf der Straße bergauf. "Ich werde euch was zeigen", sagt er, bewusst Spannung erzeugend. Fast schon theatralisch legt er die Flasche auf die Straße. Würde er sein Handeln nicht so betonen, man hätte es vermutlich nicht gemerkt: Die Flasche rollt nicht zurück, sondern vorwärts. Sie rollt die Steigung hinauf, vermeintlich.

"Schaut doch mal nach links, wo wir sind", sagt José triumphierend. Dort, gen Südwesten, zeigt sich um den Vulkan Licancabur herum eine völlig surreale Kulisse. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Welt schiefsteht. Eine sich schier endlos nach hinten erstreckende Hangfläche leitet den Übergang vom Hochgebirge zur Wüste auf eine so absurd schiefe Weise ein, dass man das Gefühl bekommt, man träume. Kaum vorstellbar, dass noch ganze 2000 Meter fehlen sollen zum 5920 Meter hohen Vulkan, der so nah und greifbar wirkt. Nicht die einzige optische Täuschung: Während man das Gefühl hat, inmitten der Gebirgslandschaft hoch- und runterzufahren, befindet man sich auf einer stetigen Hangabfahrt.

Bäche fließen den Berg hinauf

Ständig hält man Aussicht nach den offensichtlichen Attraktionen, wie den omnipräsenten Vikunjas, den wildlebenden Verwandten des Alpakas, oder herumstreunenden Wüstenfüchsen. Dabei kann es passieren, dass einem die wirklichen Kuriositäten der Landschaft, wie vermeintlich den Berg hinauffließende Gebirgsbäche, entgehen. Sich an der Landschaft sattzusehen, unmöglich. Alle paar Kilometer verändert die trockenste Wüste der Welt ihr Gesicht, geht von gebirgigen Felsschluchten zu von der Trockenheit aufgebrochenem Wüstenboden über, wechselt von Salzlagunen in die begraste Savanne.

In einer abermals völlig anderen Welt liegt das "Valle de la Luna", das seinen Namen nicht umsonst trägt. Die Salzkrusten des urzeitlichen Ozeans haben eine Mondlandschaft geschaffen, die der seltene Regen in ein winterlich anmutendes Weiß kleidet.

Die wenige Kilometer tiefer in der Wüste gelegene Laguna Tebinquiche braucht dafür keinen Regentropfen. Wie riesige Eisschollen bedecken die Salzschichten das türkisfarbene Wasser. Die mit der untergehenden Sonne langsam abkühlende Temperatur unterstreicht den frostigen Anblick. Wie ein Bogen spannen sich die Wolken über den kleinen See. Bevor sich die Sonne ganz verabschiedet, hüllt sie den Wolkenbogen in eine orange-rote Silhouette. Und für einen Moment sieht es so aus, als formten die Salzkruste am Rand des Sees und der Wolkenbogen einen Mund zum Gute-Nacht-Kuss.

Lukas Lange, Stipendiat der Passauer Neuen Presse, verbrachte ein Auslandssemester in Südamerika.