Die Verrückten im Wald von Guédelon

21.11.2014 | Stand 21.11.2014, 15:00 Uhr

Auf dem weitläufigen Gelände um die Burg kann man sich von den festen und freiwilligen Burgbauern ihre Arbeit detailliert erklären lassen. Hier wird Eichenholz zu hauchdünnen Dachschindeln verarbeitet, die deutlich wetterbeständiger sind als maschinell geschnittene. − Fotos: Imme Oldenburg

Im Mittelalter wäre Peter (49) gnadenlos verhungert. Als Steinmetz hätte er vor 800 Jahren mit einem halben behauenen Stein pro Tag nicht mal sein Frühstück verdient. Im 13. Jahrhundert wurden die Steinmetze am Ende des Tages nach der Anzahl ihrer fertig behauenen Steine bezahlt. In der Regel waren das drei bis vier pro Tag. Hinderliche Dinge, wie eine 35-Stunden-Woche, Winterpause oder gar neugierige Touristen mitten auf der Baustelle, gab es nicht. Ein Lehnsherr im 13. Jahrhundert konnte eine vergleichbare Ritterburg, wie sie derzeit in Guédelon im Burgund gebaut wird, leicht innerhalb von drei bis vier Jahren hochziehen. In Guédelon werden sie für ihre Ritterburg etwa 28 Jahre benötigen.

Experimentelle ArchäologieBegonnen hat alles 1997 mit einer Handvoll "Verrückter", die sich vorgenommen hatten, eine echte Ritterburg ausschließlich mit den Techniken des Mittelalters zu bauen. Einfach nur des Wissens halber. Um herauszufinden, wie man damals tatsächlich gebaut hat. Wie muss Mörtel beschaffen sein, damit er tausend Jahre benötigt, um zu trocknen, und so lange auch elastisch bleibt? Wie hebt man tonnenschwere Deckenbalken ohne Kran auf die gemauerten Wände in zehn Meter Höhe? Warum wird der Schlussstein eines Gewölbes nicht als letzter Stein eingesetzt? Was als Abenteuer begann, ist längst wissenschaftlich anerkannt und gehört in den Forschungsbereich der experimentellen Archäologie, also eine Art Freiluft-Labor. Für den Bau einer authentischen Ritterburg in Guédelon müssen Arbeits- und Organisationsabläufe des 13. Jahrhunderts neu erfunden werden, denn überliefert oder dokumentiert ist dieses Wissen nicht.

Und wie überall braucht Forschung seine Zeit – in Guédelon wird sie gut genutzt. Bis zur voraussichtlichen Fertigstellung im Jahr 2025 werden neben der kleinen Stammmannschaft mehrere Tausend begeisterter Menschen an der Burg mitgearbeitet haben, und Millionen Besucher werden eine ungewöhnlich konkrete Vorstellung davon haben, mit welchen Mitteln man im 13. Jahrhundert gebaut hat. Und weltweit werden Archäologen, Historiker, Kunsthistoriker und Burgenforscher Erkenntnisse zur Bautechnik einer vergangenen Epoche gewonnen haben.

Guédelon ist zweifelsohne eine Erfolgsgeschichte und international mittlerweile so bekannt, dass aus der ganzen Welt nicht nur renommierte Wissenschaftler das experimentelle Projekt begleiten, sondern auch freiwillige Mitarbeiter von weit her kommen. So wie Peter. Er ist Neuseeländer und diesen Sommer bereits zum zweiten Mal um die halbe Welt gereist, um für eine Woche in Guédelon mitarbeiten zu dürfen. Der Informatikexperte und Manager einer neuseeländischen Firma interessiert sich privat für Geschichte, konkret das 13. Jahrhundert und die Kreuzzüge. In Neuseeland hat er im Sommer 2013 eine der zahllosen Dokumentationen über Guédelon gesehen und sich übers Internet als Mitarbeiter beworben. Mehr als 600 Freiwillige, in der Mehrzahl Franzosen, arbeiten mittlerweile pro Jahr auf der Baustelle mit. Ungelernte für mindestens drei, maximal sieben Tage, ausgebildete Handwerker auch länger. Einzige unabdingbare Voraussetzung für alle sind gute bis sehr gute Französischkenntnisse. Aus Sicherheitsgründen auf einer operierenden Baustelle ist das unerlässlich. Außerdem muss auch ein Gast-Mitarbeiter den Besuchern sein bereits erworbenes Wissen weitergeben können. Jeder lernt hier von jedem. In Guédelon wird nicht gebaut, um fertig zu werden – es wird gebaut, um zu verstehen.

Mittlerweile 60 Festangestellte arbeiten auf der Baustelle, davon etwa 40 in den unterschiedlichsten Handwerksberufen, wie Steinmetz, Maurer, Seiler, Holzfäller, Schreiner, Schmied, Töpfer, Fuhrmann, Färber. In den Wintermonaten ruht die Baustelle, dafür ist sie von März bis Oktober täglich für Besucher geöffnet − und das schon seit 1998, als es eigentlich noch nichts zu sehen gab. Seither hat sie sich zu einer Besucherattraktion weit über die Region hinaus entwickelt. 320.000 Besucher kamen alleine 2013, an Spitzentagen sind es bis zu 5000 Touristen. Französische Schulen verlegen ihren Geschichtsunterricht routinemäßig nach Guédelon. Anschaulicher kann man Mittelalter nicht erklären und erfahren.

Finanziert durch EintrittsgelderSchon lange finanziert sich das private Projekt maßgeblich durch Eintrittsgelder. Die meisten Besucher kommen alle zwei bis drei Jahre wieder. Die Faszination, die von der sich beständig wandelnden und wachsenden Baustelle ausgeht, ist überall greifbar. Hier wird keine Mittelalterromantik betrieben, sondern ernsthaft gebaut. Nirgends sonst auf der Welt werden noch gotische Gewölbe von Hand gebaut, aus individuell behauenen Steinen, ohne moderne technische Hilfsmittel.

Benoît Millot gewann mit seiner Dokumentation "La Voûte" (Das Gewölbe) über die Errichtung des Kreuzgewölbes im Hauptturm von Guédelon 2012 in Cannes den Preis "Dauphin d’argent". In dem dreisprachig gehaltenen Film resümiert Maryline Martin, die Chefin des Burgbauprojekts, denn auch: "Dieses Projekt ist gerechtfertigt und nicht nur die Idee von 60 Verrückten im Wald. Es geht absolut nicht darum, Mittelalter zu spielen, sondern mittels eines modernen Abenteuers Fragen zu beantworten." Eine fertige Ritterburg braucht zwar eigentlich niemand – 60 Verrückte im Wald hingegen bereichern das 21. Jahrhundert ganz nachhaltig.

INFOGuédelon: Bauprojekt einer mittelalterlichen Ritterburg im französischen Burgund, 180 Kilometer südlich von Paris. Beginn 1997, Ende voraussichtlich 2025, www.guedelon.fr.

Initiator: Michel Guyot, französischer Schlossherr, Denkmalpfleger und Restaurator aus der Region.

Vorbild: Vorbild sind die philippinischen Burgen des 12. und 13.Jahrhunderts, erbaut nach dem Architektur-Kanon des französischen Königs Philipp II., der 1180 bis 1223 regierte. Die Baupläne, nach denen in Guédelon gebaut wird, stammen vom französischen Chef-Architekten und obersten Denkmalpfleger Jacques Moulin und sind auf einen fiktiven Baubeginn von 1229 ausgerichtet. Gebaut wird ausschließlich mit den Techniken des beginnenden 13.Jahrhunderts.

Anreise: Guédelon ist nur mit eigenem Auto erreichbar, keine öffentliche Verkehrsanbindung.

Sicherheit: Das private Bauprojekt unterliegt den Sicherheitsbestimmungen des 21. Jahrhunderts. Bei den Treträdern müssen zum Beispiel DIN-geprüfte Tragseile mit Stahlkern verwendet werden. Vorschrift für alle Mitarbeiter sind Stahlkappenschuhe, Schutzhelme, Schutzbrillen und Mundschutz wenn nötig.

Mitarbeiten: Eine Bewerbung als Bâtisseur (Freiwilliger) ist unter www.guedelon.fr möglich. Mit der schriftlichen Zusage erhält der zukünftige Bâtisseur eine detaillierte Anleitung zur mittelalterlichen Kleiderordnung mit Schnittmustern, zu Sicherheitsfragen, zu Arbeitszeiten, zum Umgang mit Besuchern, zu Unterbringungsmöglichkeiten vor Ort − gut 20 regionale Adressen von Hotel bis Campingplatz −, zu den Kosten (pro Tag sieben Euro), zur Kantine (pro Tag 6,50 Euro) und zu Ansprechpartnern.

Besichtigen: In den Wintermonaten ruht die Baustelle, ab 16.März 2015 ist sie wieder täglich von 10 bis 18 Uhr für Besucher geöffnet; die entsprechenden Informationen auf der Internetseite www.guedelon.fr werden allerdings erst in absehbarer Zeit aktualisiert.

Campus Galli: Inspiriert von Guédelon wird in Meßkirch in Baden-Württemberg in den kommenden 40 Jahren eine karolingische Klosterstadt aus dem 9. Jahrhundert nachgebaut, Informationen unter www.campus-galli.de.

Dr. Imme Oldenburg aus der Online-Redaktion der Passauer Neuen Presse war privat in Frankreich und hat eine Woche in Guédelon mitgearbeitet.