Regensburg
Über 500 Domspatzen misshandelt - Kritik an Ratzinger und Müller

18.07.2017 | Stand 20.09.2023, 3:20 Uhr

Rechtsanwalt Ulrich Weber (Mitte) stellt am Dienstag den Abschlussbericht zum Missbrauchsskandal bei den Domspatzen vor. − Foto: Limmer

Mehr als 500 Chorknaben der Regensburger Domspatzen sind Opfer massiver Gewalt geworden. Mit dem Abschlussbericht zum Missbrauchskandal ist die Aufklärung nun abgeschlossen - die Aufarbeitung aber noch nicht. (Ein Video von der Pressekonferenz sowie ein Interview mit einem ehemaligen Schüler finden Sie am Ende des Artikels)

Bei den Regensburger Domspatzen sind deutlich mehr Chorknaben misshandelt und missbraucht worden als bisher angenommen: Mindestens 547 Kinder und Jugendliche wurden Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt. Der am Dienstag in Regensburg vorgelegte Abschlussbericht gibt dem früheren Domkapellmeister Georg Ratzinger, dem Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., eine Mitschuld. Kritik gab es auch am früheren Regensburger Bischof und heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller.

Vor allem in der Vorschule, aber auch im Gymnasium sei es zu Gewalt gegen Schüler gekommen, sagte der mit der Aufklärung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber. Betroffene hätten ihre Schulzeit als "Gefängnis, Hölle und Konzentrationslager" bezeichnet. Die körperliche Gewalt sei alltäglich und brutal gewesen. Viele Sänger des weltberühmten Chors schilderten die Jahre als "schlimmste Zeit ihres Lebens, geprägt von Angst, Gewalt und Hilflosigkeit".

Zwischen 1945 und Anfang der 1990er Jahre wurden dem Bericht zufolge etwa 500 Betroffene Opfer körperlicher Gewalt, die auch in der damaligen Zeit mit wenigen Ausnahmen verboten und strafbar war. In 67 Fällen kam es zu sexueller Gewalt. Die Dunkelziffer liege aber wohl höher. Die Fälle sind verjährt und somit strafrechtlich nicht mehr relevant. Von den 49 Beschuldigten übten 45 körperliche und 9 sexuelle Gewalt aus.

Linktipp:Hier geht es zum vollständigen Abschlussbericht

Verstöße gegen einen strengen und teilweise willkürlich ausgelegten Regelkatalog seien stets der Anlass für die Gewalt gewesen, sagte Weber. Verantwortlich seien in vielen Fällen der Direktor der Vorschule und sein Präfekt gewesen. Es müsse aber davon ausgegangen werden, dass nahezu alle Verantwortungsträger bei den Domspatzen zumindest ein Halbwissen über Gewaltvorfälle gehabt hätten. Weber sprach von einer "Kultur des Schweigens". Der Schutz der Institution habe im Vordergrund gestanden. Dem damaligen Chorleiter Ratzinger seien "sein Wegschauen, fehlendes Einschreiten trotz Kenntnis vorzuwerfen".

Kardinal Müller hatte als Regensburger Bischof bei Bekanntwerden des Skandals 2010 eine Aufarbeitung in die Wege geleitet. Diese Aufarbeitung sei aber mit vielen Schwächen behaftet gewesen, etwa weil man nicht den Dialog mit den Opfern gesucht habe, heißt es im Bericht. Müller müsse eine klare Verantwortung für die strategischen, organisatorischen und kommunikativen Schwächen zugeschrieben werden.

Kardinal Müller weist Kritik von sich zurück

Der Regensburger Generalvikar Michael Fuchs bat die Opfer um Entschuldigung. "Wir haben alle Fehler gemacht und haben viel gelernt. Wir sehen heute, dass wir früher manches besser hätten machen können", sagte er. So sei es nicht richtig gewesen, darauf zu warten, dass sich Betroffene meldeten. Man hätte vielmehr aktiv auf die Menschen zugehen müssen.

Kardinal Müller sieht bei sich keine Versäumnisse. "Eine "Chronologie der diözesanen Aufarbeitung von 2010 bis 2016" gibt detaillierte Auskunft über die Tatsachen, die oft weit von verbreiteten Fehlurteilen abweichen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Rom, bevor der Abschlussbericht veröffentlicht wurde. "Um den Opfern zu helfen, wurden Diözesanbeauftragte bestellt, die mit einer Kommission von Experten den Anzeigen sorgfältig nachgehen." Müller, der Anfang Juli von Papst Franziskus als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan abberufen wurde, verwies zudem auf einen Hirtenbrief. Darin habe er als Bischof die Opfer aufgerufen, sich zu melden.

Betroffene werden mit bis zu 20 000 Euro entschädigt

Nach Angaben von Fuchs nimmt Georg Ratzinger großen Anteil an der Aufarbeitung. Von sexuellem Missbrauch habe der damalige Domkapellmeister mit Ausnahme eines Falles nichts gewusst. Auch das Ausmaß der Gewalt habe er falsch eingeschätzt. Der Bruder des emeritierten Papstes sei ein emotionaler Mensch und habe früher auch Ohrfeigen ausgeteilt. Dies habe er aber mittlerweile bedauert und sich auch entschuldigt, sagte Fuchs.

Bischof Rudolf Voderholzer hat seit Beginn seiner Amtszeit in Regensburg Anfang 2013 die Aufklärung des Skandals vorangetrieben. Die Betroffenen sollen mit jeweils bis zu 20 000 Euro entschädigt werden. Knud Hein vom Anerkennungsgremium schätzt die auszuzahlende Gesamtsumme auf 2,5 bis 3 Millionen Euro. Das Gymnasium der Regensburger Domspatzen hat derzeit rund 320 Schüler, die Hälfte besucht auch das Internat.


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