PNP-Spendenaktion
Wissenschaftlerin Imke Hansen: „Keiner kann jeden Tag Heldentaten leisten“

01.12.2022 | Stand 18.09.2023, 21:30 Uhr

Wohin Imke Hansen mit ihrem Team auch kommt, die Zerstörung ist allgegenwärtig – wie hier in Trostjanetz in der Region Sumy ganz im äußersten Nordosten der Ukraine. Derzeit ist die Traumatherapeutin auf „Monitoring Mission“ im Frontgebiet der Ostukraine unterwegs. Jeden Tag besucht sie andere Orte, um mit den Menschen zu sprechen, die Lage zu erfassen und humanitäre Nöte und Evakuationsbedarf zu registrieren. −Foto: Vostok SOS

Was macht Krieg mit den Seelen der Menschen? Wie wirken sich traumatische Erfahrungen auf Kinder aus? Die deutsche Wissenschaftlerin Imke Hansen ist eine Expertin auf dem Gebiet der Traumatherapie.

Alle Berichte und Hintergründe zur Spendenaktion finden Sie auf unserer Sonderseite. Hier können Sie online spenden. Mehr zur Person Imke Hansen lesen Sie am Ende des Interviews.

Sie arbeitet im Osten der Ukraine für die beiden NGO Libereco - Partnership for Human Rights und Vostok-SOS, die als Partnerorganisation von CARE in der Ukraine auch von den Spenden aus der PNP-Weihnachtsaktion profitieren wird. Im Interview erklärt sie, warum ihre Therapiemethode gerade in Kriegszeiten sehr effektiv ist und warum sie davon ausgeht, dass die meiste Arbeit noch vor ihr liegt. Über ihre Erfahrungen im Kriegsgebiet berichtet Imke Hansen auch in ihrem Logbuch-Blog.

Das Interview im Wortlaut:

Frau Hansen, wie kamen Sie als deutsche Historikerin in den Osten der Ukraine?
Imke Hansen: Parallel zu meiner Tätigkeit als Historikerin engagiere ich mich seit über zehn Jahren ehrenamtlich und seit ein paar Monaten hauptamtlich bei Libereco – Partnership for Human Rights. 2014 habe ich begonnen, die Ukraine-Arbeit von Libereco aufzubauen und bin dabei auf die ukrainische Organisation Vostok SOS gestoßen, für die ich heute auch arbeite. Die Traumaarbeit im ostukrainischen Kriegsgebiet hat immer mehr Raum in meinem Leben eingenommen und vor zwei Jahren habe ich meinen Lebensmittelpunkt dann ganz in die Ukraine verlegt. Im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes habe ich mit meinen Kollegen und Kolleginnen ein traumainformiertes Trainingszentrum aufgebaut, wo wir mit der Polizei von Luhansk, Schulen, Teenagern und zivilgesellschaftlich engagierten Menschen gearbeitet haben.

Seit dem 24. Februar befindet sich die gesamte Ukraine im Kriegszustand. Wie hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Imke Hansen: Mit dem 24. Februar hat sich die Situation für uns natürlich verändert. Zunächst sind unsere Teams in den Westen des Landes geflohen. Wir hatten ein Büro in Mariupol, den Trainingshub in Severodonetsk – das haben wir alles verloren. Außerdem sind Teammitglieder in die Armee eingezogen worden. Wir mussten uns also materiell und personell erst mal neu aufstellen. Gleichzeitig haben wir als Organisation natürlich bereits seit 2014 Erfahrungen mit Krieg und Binnenflucht sammeln können, und haben seitdem ununterbrochen im Frontgebiet gearbeitet. So konnten wir auf die russische Großinvasion im Februar schnell reagieren und konnten Strategien reaktivieren, die wir bereits 2014/2015 entwickelt hatten. So haben wir in kürzester Zeit eine Hotline aufgebaut, bei der Menschen anrufen können, die evakuiert werden müssen, humanitäre Hilfe oder etwas anderes benötigen. Durch diese Hotline können wir sehr gezielt helfen und haben gleichzeitig einen Überblick über die Lage vor Ort. Außerdem konnten wir sehr schnell ein großes Netzwerk an Freunden und Freiwilligen aktivieren, das es uns ermöglicht hat, fast überall im Land zu helfen. Insgesamt hat sich die ukrainische Zivilgesellschaft seit Februar beispiellos für die Versorgung von Menschen in Not engagiert. Viele Freiwillige waren in den letzten Monaten permanent im Einsatz.

Wie geht es diesen Menschen jetzt?
Imke Hansen: Viele sind erschöpft. Der Mensch ist ja nicht dafür gemacht, monatelang jeden Tag alles zu geben, ohne sich Ruhepausen zu gönnen. Viele Freiwillige sind angesichts der Not so beschäftigt mit der Unterstützung anderer Menschen gewesen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigt oder gar nicht mehr wahrgenommen haben. Das kann schnell zum Ausbrennen führen und jetzt im Winter werden die Bedingungen ja auch immer schwieriger. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von zivilgesellschaftlichen Aktivisten, die selbst Unterstützung brauchen.

Beim Stichwort psychologische Hilfe denken die meisten Menschen an Klienten, die schwach und orientierungslos sind und nicht mit ihrem Leben klar kommen. Wir haben es hier viel mit Menschen zu tun, die wahnsinnig viel Energie in die Unterstützung anderer investieren, sich keine Pause gönnen, nahezu immer abrufbereit sind. Das schadet auf Dauer dem Nervensystem, die Menschen werden anfälliger für Stress, Konflikte und Traumatisierungen. Viele Menschen können ihre Stress- und Traumasymptome gar nicht als solche verstehen, weil sie nicht das Wissen haben oder ausblenden, dass ihr Körper die Rechnung für ihr selbstloses Engagement zahlt. Gerade diese Menschen brauchen Unterstützung, damit sie auch weiter anderen helfen können.

Und hier setzen Sie mit Ihrer Art der Traumatherapie, der Somatic Experience, an?
Imke Hansen: Somatic Experiencing ist eigentlich mehr eine Lebenseinstellung als eine Methode. Sie beruht darauf, dass wir akzeptieren, traumatische Erfahrungen gemacht zu haben, und mit den Symptomen arbeiten, die von unserer Reaktion auf diese Erfahrungen im Körper zurückgeblieben sind. Auf diese Weise müssen die Menschen nicht ihre Geschichte erzählen, müssen nicht über die schweren Momente sprechen – wir orientieren uns einfach an dem, was das Nervensystem gerade preisgibt.

Somatic Experiencing geht davon aus, dass jeder Mensch Situationen erlebt hat, die ihn überfordert haben und die einen Abdruck im Nervensystem hinterlassen haben. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass Trauma eine Verletzung ist, die heilbar ist. Genauso wie Stress nicht vermeidbar ist, aber wir ihn besser oder schlechter bewältigen können. Kern ist, dass wir versuchen, das Nervensystem in seinen natürlichen Prozessen zu unterstützen, statt es zu stören.

Mit welchen Gruppen arbeiten Sie mit diesem Ansatz?
Imke Hansen: Eigentlich mit allen, denen ich begegne. Viele sind Psychologen und Psychotherapeuten, die lernen wollen, wie sie angesichts der akuten Lage Trauma effektiv behandeln können. Ich arbeite aber auch mit Menschen, die sich mit der Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen und Kriegsverbrechen befassen und jeden Tag die Menschen interviewen, die Verbrechen erlebt und überlebt haben. Das kann einen extrem belasten, wenn man keine Mechanismen hat, abends loszulassen. Unsere Mitarbeiter, die Menschen aus umkämpften oder gerade befreiten Gebieten evakuieren, brauchen ein besonders starkes Nervensystem. Sie müssen immer wieder Gefahrensituationen managen und sind dabei nicht nur für sich, sondern auch für die anderen im Auto verantwortlich – häufig alte Menschen, Menschen mit Behinderung oder Kinder. Menschen, die humanitäre Hilfe verteilen oder psychosozial unterstützen, haben oft das Problem, dass sie am liebsten allen helfen würden, aber immer wieder mit der Begrenztzeit der Hilfskapazitäten konfrontiert sind. Das kann einen dazu treiben, auch in der Freizeit nicht aufzuhören, andere Menschen zu retten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die genannten Gruppen in der Regel selbst vom Krieg stark betroffen sind. Viele haben ihr Zuhause verloren, können nicht mehr an ihren Wohnort zurückkönnen, weil er okkupiert ist. Viele sind von Teilen ihrer Familie und ihren Freunden getrennt und können ihren alten Beruf nicht mehr ausüben. Vostok SOS hilft Menschen, ihre eigene Not zu managen und macht sie stark, gleichzeitig noch anderen Leuten zu helfen. Wir sagen den Aktivisten, was sie selbst eigentlich wissen: Wenn sie sich kaputt arbeiten, sind sie keine Hilfe mehr für andere. Nicht nur, weil sie dann wirklich physisch nicht mehr in der Lage sind, sondern auch, weil ihr Nervensystem dann so wenig Stabilität ausstrahlt, dass andere Leute sich in ihrer Präsenz nicht mehr stabil und geschützt fühlen.

Muss man nicht davon ausgehen, dass in der Ukraine die ganze Gesellschaft traumatisiert ist…
Imke Hansen: Natürlich, das ganze Land ist unter Beschuss. Familien wurden auseinandergerissen, Menschen haben Gewalt erlebt oder sind Zeugen davon geworden. Der Krieg hat ganz vom Alltag Besitz ergriffen. Entweder ist Fliegeralarm, oder es gibt keinen Strom, oder beides. Abends ist Sperrstunde, viele Dinge funktionieren nicht so wie sonst. Das macht allen das Leben schwerer und erhöht die Gefahr von Traumatisierungen. Ich arbeite momentan viel von Kiew aus. Dort zielt die russische Armee immer wieder auf die Energieinfrastruktur und trifft dabei auch andere Ziele. Selbst wenn man nicht direkt betroffen ist, ist das spürbar. Man wacht morgens vom Fliegeralarm auf, springt vielleicht nicht gleich aus dem Bett, sondern ist genervt und schläft wieder ein. Dann wacht man wieder von einem Einschlag auf und muss sich erst mal orientieren. Jetzt ist es höchste Zeit, unter die Dusche zu gehen, wer weiß, ob es später noch Wasser gibt. Strom gibt es in Kiew aktuell sowieso nicht viel, vielleicht für drei, vier Stunden am Tag. So muss man auch tagsüber mit der Stirnlampe aufs Klo gehen, weil viele Klos kein Fenster haben und es dann stockdunkel ist. Nach Beschuss braucht es erst mal eine Zeit, bis die Energiezentren wieder notdürftig repariert sind. Dann haben weniger Geschäfte auf, die Auswahl beim Bäcker ist stark reduziert. Es ist schon eine starke Einschränkung für den Alltag und beeinträchtigt natürlich auch die Arbeit.

Wie schaffen es die Menschen dann trotzdem zu (über-)leben?
Imke Hansen: Indem sie sich anpassen und improvisieren. Ukrainer scheinen dafür eine besondere Begabung zu haben. Es ist faszinierend zu sehen, wie gut die Leute mit den Herausforderungen des Kriegsalltags klarkommen. Dann passt man seinen Arbeitstag an die Zeiten an, in denen es Strom gibt. Man findet irgendwo ein Cafe mit Generator, wo man einen Kaffee bekommt und auch das Telefon aufladen kann. Auch wenn die Menschen viel mit Überleben und Sich-Arrangieren beschäftigt sind, haben sie nicht das Interesse an anderen verloren. Wir hatten jetzt gerade ein tolles Training im Gebiet Tschernihiw nicht weit von der belarussischen Grenze, wo nach der russischen Besetzung im Frühjahr wirklich viel zerstört ist. Eine Atmosphäre, in der man sich eigentlich lieber verkriechen möchte. Es haben sich viel mehr Menschen angemeldet als wir gedacht haben, und die Teilnehmenden waren extrem engagiert bei der Sache und wollten teilweise nicht mal in die Pause gehen. Es gibt ein großes Bedürfnis zu lernen, wie man besser mit Stress, Trauma, Verlust und Trauer umgeht. Und zwar sowohl im Bezug auf einen selbst, als auch im Bezug auf andere. Im Somatic Experiencing gilt, dass ich andere Menschen nur in den Bereichen helfen kann, wo ich auch selbst mit meinen Themen arbeite. Das A und O unserer Arbeit ist also, dafür zu sorgen, dass es uns gut geht, dass wir stabile und gleichzeitig elastische Nervensysteme haben und dass wir unsere eigenen Erfahrungen und Themen bearbeiten. Das vermitteln wir auch in unseren Trainings.

Es heißt ja, dass Traumata auch vererbt werden können. Wie wichtig ist die aktive Aufarbeitung der Kriegserlebnisse mit Blick auf die Kinder? Wie kann man dieses kollektive Trauma so klein wie möglich halten?
Imke Hansen: Jetzt ist es natürlich erst einmal wichtig, die Zivilgesellschaft so stabil zu halten, dass sie bis zu einem Frieden, der für die Ukraine auch ein akzeptabler Frieden sein muss, durchhält. Für Kinder ist es wichtig, dass sich Erwachsene unterstützen und unterstützen lassen, damit der ganze Stress nicht an die Kinder weitergegeben wird. Der wird ja nicht nur vererbt, sondern wird momentan jeden Tag durch Verhalten und Gefühle an die Kinder weitergegeben. Sie müssen sich mal vorstellen, wie das für ein Kind ist, ständig mit einer Person zusammen zu sein, die total im Stress ist und sich um das Überleben ihrer Familie sorgt. Die Kinder in der Ukraine wachsen wie unter einer Gießkanne von Stress, Angst und Sorgen auf. Das würde ich gerne ändern.

Sind Kinder im Krieg besonders gefährdet, Traumata zu erleiden?
Imke Hansen: Kinder haben ja noch viel feinere Antennen als Erwachsene. Der Krieg an sich ist für Kinder oft nicht so erschreckend, weil sie sich sehr schnell an neue Situationen anpassen können. Erwachsene denken oft: Oh Gott, die Kinder fürchten sich vor einem nuklearen Angriff. Aber Kinder haben eher Angst in der Gegenwart, wenn sie bei Beschuss im Keller sitzen und rundherum schlagen die Bomben ein. Da geht es ja auch ums Überleben. Aber allgemeine Zukunftsangst übernehmen Kinder von den Erwachsenen, wenn sie merken, dass ihre Bezugspersonen sich sorgen. Je mehr die Eltern im Hier und Jetzt sind, desto besser ist es für die Kinder. Eltern, die ihre Kinder schützen wollen, ist geraten, sich erstmal selbst Unterstützung zu holen.

Wie schaffen Sie es, den Menschen zu helfen? Was ist Ihr Ansatz?
Imke Hansen: Je mehr Menschen ein grundsätzliches Verständnis davon bekommen, wie sie aus einer schwierigen Situation ohne Trauma hervorgehen, wie sie mit dem täglichen Stress umgehen können, umso besser ist es. Wir haben zum Beispiel auch Leute trainiert, die Menschen, vor allem behinderte und mobil stark eingeschränkte Menschen, aus Kampfgebieten im Osten der Ukraine evakuieren. Diese Helfer sind jeden Tag unter Lebensgefahr, erleben extreme Situation und brauchen ein stabiles Nervensystem, um überhaupt durchzuhalten. Bei ihnen geht es um die Frage: Wie komme ich aus dem ganzen Ding abends wieder raus?

Und wie genau können sich solche Helfer erholen?
Imke Hansen: In lebensbedrohlichen oder extrem stressigen Situationen mobilisiert unser Körper sozusagen Überlebensenergie. Die ist super zum Kämpfen, zum Weglaufen, zum Helfen. Mit dieser Überlebensenergie leisten wir Heldentaten, heben zum Beispiel einen Lkw hoch, wenn ein Kind darunter liegt. Aber diese Energie eignet sich halt gar nicht zum Essen, zum Schlafen, zum Entspannen. Im Grunde muss man, wenn die Situation vorüber ist, diese Überlebensenergie wieder aus dem Körper herauslassen. Man muss sich gestatten zu zittern, wenn der Körper eben zittert, oder zu heulen, wenn einem danach ist. Das Schlimmste, was man tun kann, ist ein Gesicht aufzusetzen als wäre nichts gewesen, als würde man das alles mit links machen. Wenn wir wahrnehmen, was in unserem Körper gerade passiert, wenn ich erzähle, wie es mir gerade geht, dann lädt das auch andere Leute dazu ein, auf ihre Nervensysteme zu hören.

Das klingt ja erst mal gar nicht so schwer …
Imke Hansen: Wir haben leider in unserer Gesellschaft, und das ist auch in der ukrainischen nicht anders, das Paradigma, dass wir stark sein müssen und keine Schwäche zeigen dürfen – vor allem Männer. Wer zittert, gilt als Angsthase. Zittern und Heulen wird als Schwäche gedeutet. Wir versuchen den Leuten zu erklären, dass das, was nach einem anstrengenden, stressigen, bedrohlichen Ereignis mit ihnen passiert, eine gesunde, normale Reaktion ihres Nervensystems ist. Dem Nervensystem sind gesellschaftliche Konventionen und Stereotype egal. Es geht auch um Schamgefühle, die wir bei unserer Arbeit überwinden müssen.

Viele Menschen in der Ukraine sind noch von der Sowjetzeit geprägt, in der die Psychologie nicht gerade zu den angesehensten Wissenschaften zählte. Stoßen Sie bei Ihrer Arbeit auf Widerstände?
Imke Hansen: Ja, auf jeden Fall gibt es auch Widerstände. Ältere Menschen haben in der Sowjetunion gelernt, dass Psychologen ihnen in den Kopf gucken und dann etwas machen, dem sie quasi hilflos ausgeliefert sind. Wenn ich das denken würde, dann würde ich auch nicht zum Psychologen gehen. Für viele Menschen ist es ganz schwierig, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen, weil sie allein das als Versagen werten. Das ist ja auch in Deutschland so. Viele Leute suchen daher erstmal nach einer Veränderung im Außen, die in der Regel Stress und Trauma nicht lösen kann. Viele sind überrascht, dass es weniger um die anderen geht, sondern darum, mit sich selber zu arbeiten. Wir können natürlich nur Menschen helfen, die diese Hilfe auch suchen. Wer nicht um Hilfe bittet, wer keine Hilfe annimmt, dem kann man auch nicht helfen. Manchmal muss dann der Leidensdruck erst noch größer werden. Wenn Stolz und Moral so viel stärker sind als das Bedürfnis, sich gesund und gut zu fühlen, dann können wir nichts machen.

Wem können Sie helfen?
Imke Hansen: Wir haben bestimmte Programme, zum Beispiel für Angehörige von Menschen, die in Kriegsgefangenschaft geraten oder die verschollen sind. Das ist eine sehr starke Belastung für die Familien. Für solche Menschen haben wir „Safe Spaces“, die unter anderem von CARE finanziert werden. Dort können sich Frauen und Kinder aufhalten, Kontakt mit Gleichgesinnten finden und psychologische Hilfe bekommen. Und wie bereits erwähnt, helfen wir auch den Menschen, die sich für andere engagieren, wir helfen auch Psychologen, andere besser zu unterstützen. Wir arbeiten bedarfsorientiert, das heißt, dass wir Programme entwerfen, wenn eine Gruppe an uns heran tritt und ein Problem oder einen Bedarf formuliert. Wir sind auch bereit, mit Menschen zu arbeiten, die aus Gefangenschaft oder aus den besetzten Gebieten kommen, die gefoltert oder vergewaltigt wurden. Aber in vielen Fällen ist dafür jetzt noch nicht die Zeit. Für viele werden diese Themen erst aktuell werden, wenn sie etwas mehr zur Ruhe kommen.

Stellen Sie sich auf viele solcher Fälle ein?
Imke Hansen: In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden wir noch viel größere Kapazitäten brauchen, um das alles aufzufangen, was Russland in der Ukraine an Schaden angerichtet hat. Daher gilt es aktuell, möglichst viele Menschen, die mit Betroffenen arbeiten, in traumainformierter Arbeit weiterzubilden und insgesamt ein Bewusstsein für Stress und Trauma in der Gesellschaft zu aufzubauen.


Zur Person:

Dr. Imke Hansen (44) ist eine interdisziplinär arbeitende Historikerin für Osteuropäische Geschichte mit Schwerpunkt „Oral History“, also der Befragung von Zeitzeugen. Ihre Forschung führte sie von Deutschland über Polen, Belarus und Schweden in die Ukraine. Sie beschäftigte sich mit dem Holocaust und großer systemischer Gewalt und stieg intensiv in das Thema Traumaforschung ein. Weil ihr der wissenschaftliche Diskurs nicht genug Antworten lieferte, ließ sie sich selbst zur Traumatherapeutin ausbilden und spezialisierte sich auf „Somatic Experiencing“, einer bestimmten Richtung von körperorientierter Traumatherapie, die die Wiederherstellung der gesunden Funktion des Nervensystems zum Ziel hat. Seit 2020 arbeitet sie hauptberuflich für die ukrainische NGO Vostok-SOS, seit 2022 auch für die deutsch-schweizerische NGO Libereco – Partnership for Human Rights.